Tut er nicht!
Tut er wohl!
»Benehmt euch, ihr zwei«, warnte Hermes. »Sonst verwandele ich euch wieder in ein Handy und stell auf Vibrieren. Also, Percy, du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet. Was wirst du nun unternehmen?«
»Ich … ich darf ja nicht weg hier.«
»Nein, darfst du nicht. Und das hält dich auf?«
»Ich will ja los. Ich muss Grover retten.«
Hermes lächelte. »Ich habe einmal einen Jungen gekannt … ach, der war viel jünger als du. Noch ein Baby.«
Jetzt geht das wieder los, sagte George. Der redet auch immer nur über sich.
Klappe!, fauchte Martha. Oder willst du auf Vibrieren gestellt werden?
Hermes beachtete sie nicht. »Eines Nachts, als die Mutter dieses Jungen gerade nicht hinsah, schlich er sich aus seiner Höhle und stahl Vieh, das Apollo gehörte.«
»Ist er dann in Fetzen gesprengt worden?«, fragte ich.
»Hmmmm … nein. Ehrlich gesagt ist alles gut ausgegangen. Um den Diebstahl wiedergutzumachen, hat der Junge Apollo ein Instrument geschenkt, das er erfunden hatte – eine Leier. Apollo war von der Musik dermaßen entzückt, dass er ganz vergaß, wütend zu sein.«
»Und die Moral von der Geschicht’?«
»Die Moral?«, wiederholte Hermes. »Meine Güte, glaubst du, das war eine Fabel? Das ist eine wahre Geschichte. Hat die eine Moral?«
»Hm …«
»Wie wäre es damit: Stehlen ist nicht immer schlecht?«
»Ich glaube, diese Moral würde meiner Mom nicht gefallen.«
Ratten sind köstlich, schlug George vor.
Was hat das mit der Geschichte zu tun?, wollte Martha wissen.
Nichts, sagte George. Aber ich habe Hunger.
»Jetzt weiß ich’s«, sagte Hermes. »Junge Leute tun nicht immer das, was ihnen aufgetragen wird, aber wenn sie dann etwas Wunderbares vollbringen, können sie sich der Bestrafung manchmal entziehen. Wie gefällt dir das?«
»Sie wollen sagen, ich sollte losziehen«, sagte ich. »Auch ohne Erlaubnis.«
Hermes’ Augen funkelten. »Martha, kann ich bitte das erste Paket haben?«
Martha riss das Maul auf … und riss es immer weiter auf, bis die Öffnung so groß war wie mein Arm lang. Sie würgte einen Behälter aus rostfreiem Stahl hervor – eine altmodische Thermoskanne mit einem schwarzen Kunststoffdeckel, die zu einem Proviantset gehört haben musste. Die Seiten waren mit roten und gelben Szenen aus dem alten Griechenland verziert – ein Held erschlug einen Löwen, ein anderer hob den dreiköpfigen Hund Zerberus hoch.
»Das ist Herkules«, sagte ich. »Aber wie …«
»Bei Geschenken niemals Fragen stellen«, tadelte Hermes. »Das ist ein Sammlerstück aus ›Herkules schlägt Schädel ein‹. Erste Staffel.«
»›Herkules schlägt Schädel ein‹?«
»Tolle Show.« Hermes seufzte. »Als Hephaistos-TV noch was anderes als Reality-Shows gebracht hat. Natürlich wäre das Thermosding mehr wert, wenn ich das ganze Proviantset hätte …«
Oder wenn es nicht in Marthas Maul gewesen wäre, fügte George hinzu.
Das wirst du büßen. Martha fing an, ihn um den Caduceus zu jagen.
»Moment mal«, sagte ich. »Ist das ein Geschenk?«
»Das erste von zweien«, sagte Hermes. »Na los, nimm es.«
Ich hätte es fast sofort wieder fallen lassen, weil es auf der einen Seite eisig kalt war und auf der anderen glühend heiß. Das Seltsame war, wenn ich die Thermoskanne drehte, war die Seite, die zum Ozean zeigte – nach Norden –, immer die kalte.
»Das ist ein Kompass!«, sagte ich.
Hermes machte ein überraschtes Gesicht. »Überaus scharfsinnig. Auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Aber die Verwendung, für die es gedacht ist, ist etwas dramatischer. Dreh den Deckel ab und du lässt die vier Winde los und wirst schneller. Jetzt nicht! Und bitte, wenn es so weit ist, dann dreh nur leicht am Deckel. Die Winde sind ein bisschen wie ich – immer ruhelos. Wenn alle vier auf einmal entkommen … na, ich bin sicher, du wirst vorsichtig sein. Und jetzt mein zweites Geschenk. George?«
Sie berührt mich, beschwerte sich George, während er und Martha um die Stange glitten.
»Sie berührt dich immer«, sagte Hermes. »Ihr seid ineinander verschlungen. Und wenn ihr nicht sofort aufhört, dann verknotet ihr euch auch noch.«
Die Schlangen hörten auf zu ringen.
George öffnete das Maul und hustete eine kleine Plastikflasche mit Vitaminkaubonbons aus.
»Sie machen Witze«, sagte ich. »Sind die in Minotaurus-Form?«
Hermes hob die Flasche auf und schüttelte sie. »Nur die mit Zitronengeschmack. Die Traubenbonbons sind die Furien, glaube ich. Oder vielleicht die Hydren? Jedenfalls sind sie überaus wirkungsvoll. Nimm nur dann eine, wenn es wirklich, wirklich nötig wird.«
»Woher soll ich wissen, ob es wirklich, wirklich nötig ist?«
»Das wirst du wissen, glaub mir. Neun grundlegende Vitamine, Mineralien, Aminosäuren … einfach alles, was du brauchst, um dich wieder wie du selbst zu fühlen.«
Er warf mir die Flasche zu.
»Äh, danke«, sagte ich. »Aber, Herr Hermes, warum helfen Sie mir?«
Er lächelte melancholisch. »Vielleicht, weil ich glaube, dass du bei diesem Einsatz viele Leben retten kannst. Nicht nur das deines Freundes Grover.«
Ich starrte ihn an. »Sie meinen doch nicht … Luke?«
Hermes gab keine Antwort.
»Hören Sie«, sagte ich. »Herr Hermes, also … vielen Dank und überhaupt, aber nehmen Sie Ihre Geschenke lieber wieder mit. Luke ist nicht zu retten. Selbst, wenn ich ihn finden könnte … Er hat mir gesagt, dass er den Olymp Stein für Stein einreißen will. Er hat alle verraten, die er kannte. Und er … er hasst vor allem Sie!«
Hermes starrte zu den Sternen hoch. »Mein lieber junger Vetter, wenn ich im Laufe der Äonen eines gelernt habe, dann, dass wir unsere Familie nicht aufgeben können, so verlockend das auch wirken mag. Es spielt keine Rolle, ob unsere Verwandten uns hassen oder blamieren oder einfach nicht kapieren, dass man ein Genie ist, nur weil man das Internet erfunden hat …«
»Sie haben das Internet erfunden?«
Das war meine Idee, sagte Martha.
Ratten sind köstlich, sagte George.
»Es war meine Idee«, sagte Hermes. »Ich meine das Internet, nicht die Ratten. Aber darum geht es hier nicht. Percy, hast du verstanden, was ich über Familien gesagt habe?«
»Ich … ich bin nicht sicher.«
»Eines Tages wirst du es verstehen.« Hermes stand auf und wischte sich den Sand von den Beinen. »Aber jetzt muss ich weiter.«
Du musst sechzig Anrufe beantworten, sagte Martha.
Und eintausendachtunddreißig E-Mails, fügte George hinzu. Die Angebote für billige Online-Ambrosia nicht mitgezählt.
»Und dir, Percy«, sagte Hermes, »bleibt weniger Zeit, als dir klar ist, um deinen Auftrag auszuführen. Deine Freunde sollten so ungefähr … jetzt auftauchen.«
Ich hörte Annabeths Stimme, sie rief in den Dünen meinen Namen. Dann hörte ich, etwas weiter entfernt, auch Tyson.
»Ich hoffe, ich habe richtig für euch gepackt«, sagte Hermes. »Immerhin habe ich einige Erfahrung im Reisen.«
Er schnippte mit den Fingern und drei gelbe Seesäcke tauchten vor meinen Füßen auf. »Wasserdicht natürlich. Wenn du ihn freundlich bittest, müsste dein Vater dir helfen können, auf das Schiff zu gelangen.«
»Schiff?«
Hermes streckte die Hand aus. Und tatsächlich fuhr ein großes Kreuzfahrtschiff durch den Long Island Sound, seine weißen und goldenen Lichter leuchteten über dem schwarzen Wasser.
»Warten Sie«, sagte ich. »Ich kapier das alles nicht. Und ich habe noch nicht gesagt, dass ich gehe.«