Als wir die Treppe zum Deck 13 hochgingen, wo die Admiralssuite lag, zischte Annabeth: »Weg hier!«, und stieß uns in eine Vorratskammer.
Ich hörte mehrere Leute durch das Foyer laufen.
»Hast du diesen äthiopischen Drachen im Laderaum gesehen?«, fragte der eine.
Der andere lachte. »Ja, beeindruckend.«
Annabeth war noch unsichtbar, aber sie packte meinen Arm. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Stimme des zweiten Typen kennen müsste.
»Ich habe gehört, dass noch zwei kommen sollen«, sagte die bekannte Stimme. »Wenn das in diesem Tempo weitergeht – oh Mann, keine Chance!«
Die Stimmen entfernten sich auf dem Gang.
»Das war Chris Rodriguez.« Annabeth nahm die Tarnkappe ab und war wieder zu sehen. »Erinnerst du dich – aus Hütte 11?«
Ich konnte mich vom vorigen Sommer her vage an Chris erinnern. Er gehörte zu den Leuten, über die noch nicht entschieden war und die in der Hermes-Hütte festsaßen, weil ihr olympisches Elternteil sich nicht zu ihnen bekannte. Jetzt ging mir auf, dass ich Chris in diesem Sommer nicht im Camp gesehen hatte. »Was macht denn noch ein Halbblut hier?«
Annabeth schüttelte den Kopf und war sichtlich besorgt.
Wir gingen weiter den Gang entlang. Ich brauchte jetzt keine Wegweiser mehr, um zu wissen, dass ich mich Luke näherte. Ich nahm etwas Kaltes und Scheußliches wahr – die Anwesenheit des Bösen.
»Percy.« Annabeth blieb plötzlich stehen. »Schau mal!«
Sie stand vor einer Glaswand und schaute hinab in den vielstöckigen Canyon, der sich durch das ganze Schiff zog. Ganz unten befand sich die Promenade – eine Ladenpassage –, aber nicht sie hatte Annabeths Aufmerksamkeit erregt.
Eine Gruppe von Ungeheuern hatte sich vor dem Süßigkeitenladen versammelt: ein Dutzend laistrygonischer Riesen, wie die, die mich mit den Feuerkugeln angegriffen hatten, dazu zwei Höllenhunde und einige noch seltsamere Wesen – Frauen, die Schlangenschwänze hatten statt Beine.
»Skythische Dracaenae«, flüsterte Annabeth. »Drachenfrauen.«
Die Ungeheuer bildeten einen Halbkreis um einen jungen Typen in griechischer Rüstung, der auf eine Strohpuppe eindrosch. Ich spürte einen Kloß im Hals, als mir aufging, dass die Strohfigur ein orangefarbenes Camp-Half-Blood-T-Shirt trug. Während wir noch zusahen, durchbohrte der Typ in der Rüstung den Bauch der Figur und zog das Schwert nach oben. Überall stob Stroh durch die Gegend. Die Ungeheuer johlten und heulten.
Annabeth zog sich vom Fenster zurück. Ihr Gesicht war aschgrau.
»Na los«, sagte ich zu ihr und versuchte, mutiger zu klingen, als ich mich fühlte. »Je eher wir Luke finden, desto besser.«
Am Ende des Ganges stießen wir auf eine Doppeltür aus Eichenholz, die, so wie sie aussah, bestimmt an einen wichtigen Ort führte. Als wir noch zehn Meter davon entfernt waren, blieb Tyson stehen. »Stimmen dahinter.«
»So weit kannst du hören?«, fragte ich.
Tyson schloss sein Auge und schien sich gewaltig zu konzentrieren. Dann änderte sich seine Stimme und klang wie eine heisere Nachahmung von Lukes. »… die Weissagung selber. Diese Trottel werden nicht mal wissen, in welche Richtung sie davonstürzen sollen.«
Ehe ich irgendwie reagieren konnte, hatte Tysons Stimme sich schon wieder verändert, jetzt klang sie tiefer und rauer, wie der Typ, mit dem Luke vor dem Klo gesprochen hatte. »Glaubst du wirklich, der alte Klepper ist auf Dauer erledigt?«
Tyson lachte Lukes Lachen. »Dem können sie nicht vertrauen. Nicht bei den Leichen, die der im Keller hat. Und dass der Baum vergiftet worden ist, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.«
Annabeth zitterte. »Hör auf, Tyson! Wie machst du das überhaupt? Das ist ja unheimlich!«
Tyson öffnete sein Auge und sah sie ratlos an. »Ich hör nur zu.«
»Mach weiter«, drängte ich. »Was sagen sie noch?«
Tyson schloss sein Auge wieder.
Er zischte mit der rauen Männerstimme: »Ruhig!« Und dann flüsterte Lukes Stimme: »Bist du sicher?«
»Ja«, sagte Tyson mit der groben Stimme. »Direkt vor der Tür.«
Zu spät ging mir auf, was hier Sache war.
Ich konnte gerade noch sagen: »Weg hier!«, als die Türen der Suite aufgerissen wurden, und vor uns stand Luke zwischen zwei behaarten Riesen mit Wurfspeeren, deren Bronzespitzen direkt auf unsere Brust zielten.
»Na«, sagte Luke mit fiesem Lächeln. »Wenn das nicht meine beiden Lieblingsverwandten sind. Kommt doch rein!«
Die Suite war prachtvoll und sie war entsetzlich.
Der prachtvolle Teiclass="underline" riesige Bogenfenster in der Rückwand, die auf das Heck des Schiffes hinausgingen. Grünes Meer und blauer Himmel zogen sich bis zum Horizont. Ein Perserteppich bedeckte den Boden. Zwei flauschige Sofas standen mitten im Raum, in der einen Ecke sah ich ein Himmelbett und in der anderen einen Esstisch aus Mahagoni. Der Tisch war überladen mit Essen – Pizzaschachteln, Flaschen und ein Turm aus Roastbeefbroten auf einer Silberplatte.
Der entsetzliche Teiclass="underline" Auf einem Samtpodium hinten im Raum stand ein drei Meter langer goldener Sarg. Genauer gesagt, es war ein Sarkophag, in den altgriechische Szenen von brennenden Städten und grauenhaften Todesszenarien eingraviert waren. Obwohl Sonnenlicht durch das Fenster hereinströmte, ließ der Sarg den ganzen Raum kalt wirken.
»Na«, sagte Luke und breitete stolz die Arme aus. »Ein bisschen netter als Hütte 11, was?«
Er hatte sich verändert seit dem vergangenen Sommer. Statt Bermudashorts und T-Shirt trug er jetzt ein Oberhemd, Khakihosen und Lederturnschuhe. Er sah aus wie ein fieses männliches Model, das vorführt, was der modebewusste Schurke im Collegealter dieses Semester auf dem Campus trägt.
Er hatte noch immer die Narbe unter seinem Auge – eine gezackte weiße Linie, die aus seinem Kampf gegen den Drachen stammte. Und am Sofa lehnte sein Zauberschwert Rückenbeißer und ließ auf seltsame Weise seine Klinge glitzern, die halb aus Stahl und halb aus himmlischer Bronze geschmiedet war und deshalb Sterbliche und Ungeheuer gleichermaßen töten konnte.
»Setzen«, befahl er uns. Er bewegte die Hand und drei Stühle schossen in die Mitte des Raums.
Wie blieben allesamt stehen.
Lukes riesige Freunde hatten noch immer ihre Wurfspeere auf uns gerichtet. Sie sahen aus wie Zwillinge, waren aber keine Menschen. Sie waren fast zwei Meter fünfzig groß und trugen nur Jeans, vermutlich, weil ihre riesigen Brustkästen dicht mit dickem braunem Fell bewachsen waren. Sie hatten Krallen statt Fingernägel und Füße wie Pfoten. Ihre Nasen waren fast schon Schnauzen und ihre Zähne allesamt spitze Hauer.
»Ja, hab ich denn meine Manieren total vergessen?«, sagte Luke freundlich. »Das sind meine Assistenten, Agrios und Oreios. Vielleicht habt ihr von ihnen gehört.«
Ich sagte nichts. Obwohl sie ihre Speere auf mich richteten, waren es nicht die Bärenzwillinge, die mir hier Angst machten.
Seit Luke im vergangenen Sommer versucht hatte, mich umzubringen, hatte ich mir unser Wiedersehen oft vorgestellt. Ich hatte mir ausgemalt, wie ich ihm kühn standhielt, wie ich ihn zum Duell herausforderte. Aber jetzt, wo wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, konnte ich meine Hände nur mit Mühe am Zittern hindern.
»Ihr kennt die Geschichte von Agrios und Oreios nicht?«, fragte Luke. »Ihre Mutter … na ja, das ist wirklich eine traurige Geschichte. Aphrodite hatte der jungen Frau befohlen, sich zu verlieben. Die wollte aber nicht und bat Artemis um Hilfe. Artemis machte sie zu einer ihrer jungfräulichen Jägerinnen, aber Aphrodite rächte sich. Sie verwünschte die junge Frau und die verliebte sich daraufhin in einen Bären. Als Artemis das erfuhr, ließ sie die Ärmste angeekelt fallen. Typisch für die Götter, findet ihr nicht? Sie fetzen sich untereinander und die armen Menschen werden zwischen ihnen zerrieben. Die beiden Söhne der jungen Frau, eben Agrios und Oreios, lieben die Olympier also gar nicht. Halbblute aber mögen sie recht gern …«