Oreios grinste albern. »Haha! Haha!«
»Lass mich mitgehen«, grummelte Agrios. »Mein Bruder taugt doch nichts. Dieser Zyklop …«
»… ist ganz harmlos«, sagte Luke. Er schaute sich nach dem goldenen Sarg um, als mache ihm etwas zu schaffen. »Agrios, bleib hier. Wir haben wichtige Dinge zu besprechen.«
»Aber …«
»Oreios, lass mich jetzt nicht im Stich. Bleib unten, bis der Drache wirklich genug zu essen bekommen hat.«
Oreios stieß uns mit seinem Wurfspeer an und jagte uns aus der Suite, gefolgt von den beiden menschlichen Sicherheitsmännern.
Als wir durch den Gang gingen, wobei Oreios’ Speer sich in meinen Rücken bohrte, dachte ich darüber nach, was Luke gesagt hatte – dass es die Bärenzwillinge gemeinsam mit Tysons Kraft aufnehmen könnten. Aber getrennt …
Wir verließen mittschiffs den Gang und überquerten ein offenes Deck mit Rettungsbooten. Ich kannte das Schiff inzwischen gut genug, um zu wissen, dass wir nun zum letzten Mal das Sonnenlicht sahen. Auf der anderen Seite würden wir mit dem Fahrstuhl nach unten in den Schiffsrumpf fahren und damit wäre die Sache gelaufen.
Ich sah Tyson an und sagte: »Jetzt.«
Und den Göttern sei Dank, er hatte kapiert. Er drehte sich um und ließ Oreios zehn Meter weiter hinten in den Swimming-Pool klatschen, mitten zwischen die schwimmende Zombiefamilie.
»He!«, riefen die Kinder wie aus einem Munde. »Wir wollen aber keine künstlichen Wellen!«
Einer der Sicherheitsleute zog seinen Schlagstock, aber Annabeth erledigte ihn mit einem wohl platzierten Tritt. Der andere rannte zum nächsten Alarmmelder.
»Haltet ihn auf«, schrie Annabeth, aber es war zu spät.
Ehe ich ihm einen Liegestuhl an den Kopf knallen konnte, hatte er schon den Alarm ausgelöst.
Rote Lichter flackerten auf. Sirenen heulten.
»Rettungsboot«, schrie ich.
Wir rannten auf das nächste zu.
Als wir es von seiner Plane befreit hatten, wimmelte es auf dem Deck nur so von Monstern und Sicherheitsleuten, die Reisende und Kellner mit Tabletts voller tropischer Drinks beiseitefegten. Ein Typ in griechischer Rüstung zog sein Schwert und wollte uns angreifen, rutschte aber in einer Lache aus Piña colada aus. Laistrygonische Bogenschützen versammelten sich ein Deck höher und legten Pfeile an ihre riesigen Bogen.
»Wie lässt man dieses Ding zu Wasser?«, schrie Annabeth.
Ein Höllenhund sprang mich an, aber Tyson schlug ihn mit einem Feuerlöscher aus dem Weg.
»Rein da!«, brüllte ich. Ich drehte die Kappe von Springflut und hieb die erste Pfeilsalve aus der Luft.
Wir konnten jede Sekunde überwältigt werden. Das Rettungsboot hing jetzt neben dem Schiff, aber noch immer hoch über dem Wasser. Annabeth und Tyson konnten den Mechanismus einfach nicht bedienen.
Ich sprang zu ihnen ins Boot.
»Festhalten«, rief ich und kappte die Taue.
Ein Hagel aus Pfeilen pfiff über unsere Köpfe, als wir uns im freien Fall dem Ozean näherten.
An Bord genommen von toten Südstaatensoldaten
»Thermos«, schrie ich, als wir auf das Wasser zustürzten.
»Was?« Annabeth hielt mich sicher für verrückt. Sie klammerte sich verzweifelt an einen Riemen und ihre blonden Haare flogen senkrecht nach oben.
Aber Tyson hatte begriffen. Er konnte meinen Seesack öffnen und Hermes’ magische Thermoskanne herausnehmen, ohne das Boot aus dem Griff zu verlieren.
Pfeile und Wurfspeere pfiffen um unsere Ohren.
Ich packte die Thermoskanne und hoffte, das Richtige zu tun. »Festhalten!«
»Ich halte mich fest!«, schrie Annabeth.
»Fester!«
Ich verhakte meine Füße unter der aufblasbaren Sitzbank des Bootes, Tyson packte Annabeth und mich hinten an unseren T-Shirts und ich ließ den Deckel der Thermoskanne eine Vierteldrehung machen.
Sofort jagte ein weißer Windstoß aus der Flasche, riss uns zur Seite und machte aus unserem steilen Absturz eine Bruchlandung im Winkel von fünfundvierzig Grad.
Der Wind schien zu lachen, als er aus der Flasche schoss, offenbar genoss er seine Freiheit. Als wir auf den Ozean schlugen, titschten wir einmal, zweimal wie ein flacher Stein auf, dann jagten wir dahin, mit salziger Gischt in den Gesichtern und vor uns nur noch das offene Meer.
Ich hörte Wutgeheul vom Schiff hinter uns, aber wir waren schon außer Schussweite. Die Prinzessin Andromeda schrumpfte in der Ferne zu einem weißen Spielzeugboot zusammen und war verschwunden.
Während wir über das Meer schossen, versuchten Annabeth und ich, Chiron eine Iris-Message zu schicken. Wir fanden es wichtig, dass irgendwer informiert war, was Luke vorhatte, und wir wussten nicht, wem wir sonst vertrauen konnten.
Der Wind aus der Thermoskanne ließ jede Menge Gischt aufstieben, die im Sonnenschein einen Regenbogen bildete – perfekt für eine Iris-Message –, aber die Verbindung war schlecht. Als Annabeth eine goldene Drachme in den Nebel warf und die Regenbogengöttin bat, uns Chiron zu zeigen, konnten wir sein Gesicht recht gut sehen, aber im Hintergrund flackerte ein komisches Stroboskop und laute Rockmusik dröhnte, wie in einer Disko.
Wir erzählten ihm, wie wir uns aus dem Camp geschlichen hatten, und wir berichteten von Luke und der Prinzessin Andromeda und dem goldenen Sarg mit Kronos’ Überresten, aber bei dem Lärm auf seiner Seite und dem Rauschen von Wind und Wasser auf unserer fragte ich mich, wie viel er überhaupt gehört hatte.
»Percy«, schrie Chiron. »Du musst dich hüten vor …«
Seine Stimme ging im lauten Geschrei hinter ihm unter – lauter Stimmen, die losgrölten wie Komantschenkrieger.
»Was?«, schrie ich.
»Ach, meine verdammten Verwandten!« Chiron duckte sich, als ein Teller über seinen Kopf flog und irgendwo außerhalb unseres Sichtfeldes zerschellte. »Annabeth, du hättest Percy nicht aus dem Camp lassen dürfen. Aber wenn ihr das Vlies findet …«
»Yeah, Baby«, brüllte irgendwer hinter Chiron. »Woohooooo!«
Die Musik wurde noch lauter gedreht, die Bässe dröhnten so, dass unser Boot vibrierte.
»Miami«, schrie Chiron. »Ich versuche … Auge behalten …«
Unser nebliger Bildschirm zersprang, als ob jemand auf der anderen Seite eine Flasche danach geworfen hätte, und Chiron war verschwunden.
Eine Stunde später kam Land in Sicht – ein langer Strand voller Hoteltürme. Auf dem Wasser wimmelte es jetzt von Fischkuttern und Tankern. Ein Boot der Küstenwache passierte uns steuerbords, dann drehte es bei und schien noch einen Blick auf uns werfen zu wollen. Ich nehme an, es sah nicht jeden Tag ein gelbes Rettungsboot ohne Motor, besetzt mit drei Jugendlichen, das hundert Knoten in der Stunde hinlegte.
»Das ist Virginia Beach«, sagte Annabeth, als wir uns dem Ufer näherten. »Meine Güte, ist die Prinzessin Andromeda in einer Nacht so weit gekommen? Das macht doch …«
»Fünfhundertdreißig Seemeilen«, sagte ich.
Sie starrte mich an. »Woher weißt du das?«
»Ich … ich bin nicht sicher.«
Annabeth überlegte kurz. »Percy … wie ist unsere Position?«
»36° Nord, 44° 02’ West«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. Dann schüttelte ich den Kopf. »Himmel. Woher weiß ich das denn bloß?«
»Das hat mit deinem Dad zu tun«, tippte Annabeth. »Wenn du auf See bist, kennst du dich einfach aus. Das ist echt klasse.«
Ich war mir da nicht so sicher. Ich wollte keine menschliche GPS-Vorrichtung sein, aber ehe ich noch etwas sagen konnte, tippte Tyson mir auf die Schulter. »Anderes Boot kommt.«
Ich schaute mich um. Die Küstenwache hatte sich jetzt eindeutig an unsere Fersen geheftet. Sie ließen ihre Scheinwerfer aufleuchten und wurden immer schneller.
»Die dürfen uns nicht einholen«, sagte ich. »Sie würden viel zu viele Fragen stellen.«
»Da hast du Recht«, sagte Annabeth. »Steuer die Chesapeake Bay an. Ich weiß, wo wir uns da verstecken können.«