Ich fragte nicht, was sie meinte oder wieso sie sich in der Gegend so gut auskannte. Ich wagte es, den Deckel der Thermoskanne noch ein wenig weiter zu öffnen, und ein frischer Windstoß jagte uns um die Nordspitze von Virginia Beach herum in die Chesapeake Bay. Das Boot der Küstenwache fiel immer weiter zurück. Wir drosselten unser Tempo erst, als die Bucht auf beiden Seiten schmaler wurde und mir klar wurde, dass wir eine Flussmündung erreicht hatten.
Ich konnte den Wechsel von Salzwasser zu Süßwasser spüren. Plötzlich war ich müde und kaputt, wie nach einem abrupten Blutzuckersturz. Ich hatte keine Ahnung mehr, wo ich war oder in welche Richtung ich das Boot lenken sollte. Gut, dass Annabeth mir Anweisungen erteilte.
»Da«, sagte sie. »An dieser Sandbank vorbei.«
Wir schaukelten in ein sumpfiges Gebiet, das vor Schilf zu ersticken schien. Ich ließ das Rettungsboot vor einer riesigen Zypresse halten.
Mit Schlingpflanzen umwucherte Bäume ragten über uns auf. Insekten sirrten in den Wäldern. Die Luft war stickig und heiß und vom Fluss stieg Dampf auf. Und irgendwie … es war eben nicht Manhattan und das gefiel mir nicht.
»Na los«, sagte Annabeth. »Es ist gleich hinter der Sandbank.«
»Was denn?«, fragte ich.
»Kommt einfach mit.« Sie griff einen Seesack. »Und wir sollten das Boot abdecken. Wir wollen doch keine Aufmerksamkeit erregen.«
Nachdem wir das Rettungsboot unter Zweigen begraben hatten, folgten wir Annabeth über das Ufer, wo unsere Füße in rotem Schlamm versanken. Eine Schlange glitschte an meinem Schuh vorbei und verschwand im Gras.
»Nicht gut hier«, sagte Tyson. Er versuchte, die Moskitos zu verjagen, die schon auf seinem Arm Schlange standen.
Nach einigen weiteren Minuten sagte Annabeth: »Hier.«
Ich sah nur eine Menge Dornengestrüpp. Aber Annabeth schlug eine Art runden, geflochtenen Deckel aus Zweigen beiseite wie eine Tür, und mir ging auf, dass ich in einen getarnten Unterstand blickte.
Innen war genug Platz für drei, selbst wenn Tyson der Dritte war. Die Wände waren aus Pflanzen geflochten, wie bei einer Indianerhütte, aber sie sahen ziemlich wasserdicht aus. In der Ecke war alles aufgestapelt, was man sich beim Camping nur wünschen kann – Schlafsäcke, Decken, ein kleiner Kühlschrank und eine Petroleumlampe. Es gab auch Ausrüstungsgegenstände für Demigottheiten – Speerspitzen aus Bronze, einen Köcher voller Pfeile, ein Schwert und eine Dose Ambrosia. Es roch muffig, als sei lange schon niemand mehr hier gewesen.
»Ein Halbblut-Versteck.« Ich sah Annabeth voller Bewunderung an. »Hast du das hier eingerichtet?«
»Zusammen mit Thalia«, sagte sie leise. »Und Luke.«
Das hätte mir nichts ausmachen dürfen. Ich meine, ich wusste, dass Thalia und Luke sich um Annabeth gekümmert hatten, als sie noch klein gewesen war. Ich wusste, dass die drei zusammen weggelaufen waren, sie hatten sich vor Ungeheuern versteckt und irgendwie zu überleben versucht, bis Grover sie dann gefunden und versucht hatte, sie nach Half-Blood Hill zu bringen. Aber immer, wenn Annabeth die Zeit erwähnte, die sie mit den beiden verbracht hatte, dann fühlte ich mich … ich weiß auch nicht. Unbehaglich?
Nein. Das war nicht das richtige Wort.
Das richtige Wort war eifersüchtig.
»Aha«, sagte ich. »Und du meinst nicht, dass Luke uns hier suchen wird?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben ein Dutzend solcher Verstecke angelegt. Ich glaube nicht, dass Luke sich auch nur erinnern kann, wo die sind … oder dass es ihn interessiert.«
Sie ließ sich auf die Decken fallen und fing an, in ihrem Seesack zu wühlen. Ihre Körpersprache sagte ziemlich deutlich, dass sie jetzt nicht reden wollte.
»Äh … Tyson?«, sagte ich. »Könntest du dich draußen wohl ein wenig umsehen? Ich meine … einen Urwaldkiosk suchen oder so?«
»Kiosk?«
»Ja, wo es Süßigkeiten gibt. Donuts mit Puderzucker, so was in der Art. Aber geh nicht zu weit weg.«
»Donuts mit Puderzucker«, sagte Tyson ernsthaft. »Ich suche im Urwald nach Donuts mit Puderzucker.« Er lief hinaus und rief: »Hierher, Donuts!«
Als er weg war, setzte ich mich Annabeth gegenüber. »He, es tut mir leid … ich meine, dass wir Luke getroffen haben.«
»Das war ja nicht deine Schuld.« Sie zog ihr Messer aus der Scheide und fing an, mit einem Lappen die Klinge zu säubern.
»Er hat uns zu leicht davonkommen lassen«, sagte ich.
Ich hatte gehofft, mir das eingebildet zu haben, aber Annabeth nickte. »Das hab ich mir auch schon gedacht. Wir haben doch aufgeschnappt, dass er etwas von einem Spiel gesagt hat und ›Sie werden den Köder schlucken‹. Ich nehme an, dass er uns gemeint hat.«
»Ist dann das Vlies der Köder? Oder Grover?«
Sie musterte die Messerkante. »Ich weiß es nicht, Percy. Vielleicht will er das Vlies selber haben. Vielleicht hofft er, dass wir für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen, damit er uns dann das Vlies stehlen kann. Ich kann nur einfach nicht glauben, dass er wirklich den Baum vergiftet hat …«
»Wie hat er das gemeint«, fragte ich, »dass Thalia auf seiner Seite sein würde?«
»Er irrt sich.«
»Du klingst aber nicht überzeugt.«
Annabeth starrte mich wütend an und ich wünschte, ich hätte ihr diese Frage nicht gestellt, solange sie noch ein Messer in der Hand hielt.
»Percy, weißt du, an wen du mich vor allem erinnerst? An Thalia. Ihr habt solche Ähnlichkeit miteinander, das ist wirklich unheimlich. Ich meine … ihr wärt entweder die besten Freunde geworden oder hättet euch gegenseitig erwürgt.«
»Dann bin ich für die besten Freunde.«
»Sie war manchmal stocksauer auf ihren Dad. Genau wie du. Aber würdest du dich deswegen den Feinden des Olymps anschließen?«
Ich starrte den Köcher in der Ecke an. »Nein.«
»Da hast du’s. Sie auch nicht.«
Annabeth bohrte ihr Messer in den Boden.
Ich hätte sie gern nach der Weissagung gefragt, die Luke erwähnt hatte … und was die mit meinem sechzehnten Geburtstag zu tun hatte. Aber ich ging davon aus, dass sie es mir nicht sagen würde. Chiron hatte klargestellt, dass ich nichts erfahren dürfte, solange die Gottheiten das nicht anders entschieden.
»Aber wie hat Luke das mit den Zyklopen gemeint?«, fragte ich stattdessen. »Er hat gesagt, ausgerechnet du …«
»Ich weiß, was er gesagt hat. Es … es ging um den eigentlichen Grund, aus dem Thalia gestorben ist.«
Ich wartete, ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Annabeth holte zitternd Atem. »Du kannst einfach keinem Zyklopen vertrauen, Percy. Vor sechs Jahren, in der Nacht, in der Grover uns nach Half-Blood Hill geführt hat …«
Das Quietschen der Tür ließ sie verstummen. Tyson kam herein.
»Donuts mit Puderzucker«, sagte er stolz und hielt uns eine Tüte hin.
Annabeth starrte ihn an. »Woher hast du die? Wir sind hier doch mitten im Dschungel. Es gibt nichts im Umkreis von …«
»Zwanzig Meter«, sagte Tyson. »Monster-Donut-Laden – gleich hinter dem Hügel.«
»Das ist übel«, murmelte Annabeth.
Wir kauerten hinter einem Baum und starrten den Donutkiosk mitten im Wald an. Er sah nagelneu aus, hinter den Fenstern brannte helles Licht, es gab einen Parkplatz und eine kleine Straße, die in den Wald führte, aber ansonsten gab es nichts und es waren auch keine Autos zu sehen. Wir entdeckten nur eine Verkäuferin, die hinter der Kasse eine Zeitschrift las. Das war alles. Auf der Markise über den Fenstern stand in so großen Buchstaben, dass sogar ich sie lesen konnte:
MONSTER DONUT.
Eine Karikatur von einer Echse biss in das O von MONSTER. Es roch gut hier, nach frisch gebackenen Schokodonuts.
»So was dürfte es hier nicht geben«, flüsterte Annabeth. »Das kann nicht gut sein.«
»Was?«, fragte ich. »Das ist doch nur ein Kiosk.«
»Psst!«
»Warum flüstern wir? Tyson ist reingegangen und hat ein Dutzend gekauft. Ihm ist nichts passiert.«
»Er ist ja auch ein Monster.«