»Nein!«, schrie Clarisse.
»Wir haben keine Wahl, M’lady. Der Rumpf birst bereits. Er kann nicht …«
Er sollte diesen Satz niemals beenden. Blitzschnell schoss etwas Braunes und Grünes aus dem Himmel, packte sich den Käpt’n und hob ihn hoch. Nur seine Lederstiefel blieben zurück.
»Die Skylla«, schrie ein Soldat, als eine weitere Säule Reptilienfleisch von den Felsen herunterschoss und ihn schnappte. Es ging wahnsinnig schnell, ich hatte das Gefühl, einen Laserstrahl zu beobachten und kein Ungeheuer. Ich konnte nicht einmal das Gesicht dieses Wesens erkennen – ich sah nur das Aufleuchten von Zähnen und Schuppen.
Ich drehte die Kappe von Springflut und versuchte, das Ungeheuer zu treffen, als es sich einen weiteren Matrosen holte, aber ich war viel zu langsam.
»Alles unter Deck«, schrie ich.
»Geht nicht!« Clarisse zog ihr Schwert. »Unten brennt alles.«
»Die Rettungsboote«, sagte Annabeth. »Schnell!«
»Die kommen nie im Leben von den Felsen weg«, sagte Clarisse. »Wir werden alle aufgefressen.«
»Wir müssen es versuchen. Percy, die Thermosflasche.«
»Ich kann Tyson nicht im Stich lassen.«
»Wir müssen die Boote fertig machen!«
Clarisse hörte auf Annabeths Rat. Sie und einige ihrer untoten Soldaten entfernten die Planen von zwei Rettungsruderbooten, während die Köpfe der Skylla vom Himmel stießen und einen Südstaatensoldaten nach dem anderen aufpickten.
»Nehmt das andere Boot!« Ich warf Annabeth die Thermosflasche zu. »Ich hole Tyson.«
»Das geht nicht!«, rief sie. »Die Hitze bringt dich um!«
Ich hörte nicht auf sie. Ich rannte zum Kesselraum, aber plötzlich berührten meine Füße nicht mehr das Deck.
Ich flog nach oben, der Wind pfiff in meinen Ohren und der Felsen war nur noch ein paar Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.
Ein Kopf der Skylla hatte meinen Seesack erwischt. Und zog mich daran nach oben zu ihrem Lager. Ohne nachzudenken, schwang ich mein Schwert rückwärts und konnte dem Wesen in sein gelbes Knopfauge stechen. Es grunzte und ließ mich los.
Das wäre schon schlimm genug gewesen, ich war schließlich mehr als dreißig Meter hoch in der Luft. Aber als ich nun stürzte, ging unter mir die C.S.S. Birmingham in die Luft.
KAWUMMMM!
Der Maschinenraum explodierte und schoss Eisenstücke wie brennende Flügel in alle Richtungen.
»Tyson!«, schrie ich.
Die Rettungsboote waren im Wasser, aber sie waren noch nicht weit gekommen. Es hagelte glühende Wrackteile. Clarisse und Annabeth würden entweder zerschmettert oder verbrannt oder vom sinkenden Schiffsrumpf nach unten gezogen werden, und das auch nur, wenn sie das Glück hatten, der Skylla zu entkommen.
Dann hörte ich noch eine Explosion – das Geräusch von Hermes’ magischer Thermosflasche, die ein bisschen zu weit aufgedreht wurde. Weiße Windböen jagten in alle Richtungen davon, trieben die Rettungsboote auseinander, rissen mich aus meinem freien Fall und schleuderten mich quer über den Ozean.
Ich konnte nichts sehen. Ich wirbelte durch die Luft, knallte mit dem Kopf gegen etwas Hartes und prallte mit einer Wucht auf das Wasser, die jeden einzelnen Knochen in meinem Körper gebrochen hätte, wenn ich nicht der Sohn des Meeresgottes gewesen wäre.
Das Letzte, woran ich mich erinnere, war, dass ich im brennenden Meer versank. Ich wusste, dass Tyson für immer verloren war, und wünschte mir nur noch, ertrinken zu können.
Wir mieten uns in C.C.s Wellness-Hotel ein
Ich kam in einem Ruderboot mit einem improvisierten Segel aus grauem Uniformstoff wieder zu mir. Neben mir saß Annabeth und legte eine Wende hin.
Ich versuchte mich aufzusetzen und sofort wurde mir schwindlig.
»Ruh dich aus«, sagte sie. »Das wird dir guttun.«
»Tyson …?«
Sie schüttelte den Kopf. »Percy, es tut mir wirklich leid.«
Wir schwiegen. Die Wellen warfen uns auf und ab.
»Vielleicht hat er überlebt«, sagte sie halbherzig. »Ich meine, Feuer kann ihn doch nicht umbringen.«
Ich nickte, aber ich sah keinen Grund zum Optimismus. Ich hatte gesehen, wie diese Explosion solides Eisen zerfetzt hatte. Wenn Tyson unten im Kesselraum gewesen war, dann konnte er einfach nicht mehr am Leben sein.
Er hatte sein Leben für uns gegeben und ich musste daran denken, wie oft ich mich seiner geschämt und verleugnet hatte, dass wir verwandt waren.
Wellen leckten am Boot. Annabeth zeigte mir, was sie bei dem Schiffbruch gerettet hatte – Hermes’ Thermoskanne (die jetzt leer war), einen Beutel voll Ambrosia, ein paar Matrosenblusen und eine Flasche Dr. Pepper. Sie hatte mich aus dem Wasser gefischt und meinen von der Skylla in Stücke gebissenen Seesack gefunden. Die meisten meiner Habseligkeiten waren weggeschwemmt worden, aber ich hatte noch immer Hermes’ Vitaminbonbons und natürlich Springflut. Der Kugelschreiber tauchte immer wieder in meiner Tasche auf, egal, wo ich ihn verlor.
Wir segelten stundenlang weiter. Jetzt, wo wir das Meer der Ungeheuer erreicht hatten, glitzerte das Wasser in einem leuchtenden Grün, grün wie das Gift der Hydra. Der Wind roch frisch und salzig, brachte aber auch einen starken metallischen Geruch mit sich – als ziehe ein Gewitter herauf. Oder etwas noch Gefährlicheres. Ich wusste, in welche Richtung wir uns halten mussten. Ich wusste, dass wir uns genau einhundertdreizehn Seemeilen Westnordwest von unserem Ziel befanden. Aber trotzdem kam ich mir total verloren vor.
Wohin wir uns auch drehten, immer schien mir die Sonne in die Augen. Wir tranken abwechselnd aus der Dr.-Pepper-Flasche und suchten nach Kräften im Schatten des Segels Zuflucht. Und wir sprachen über meinen letzten Traum von Grover.
Annabeth nahm an, dass uns weniger als vierundzwanzig Stunden blieben, um Grover zu finden, wenn mein Traum der Wahrheit entsprach und falls der Zyklop Polyphem sich die Sache nicht anders überlegte und sich früher mit Grover vermählte.
»Ja«, sagte ich bitter. »Auf einen Zyklopen ist ja nie Verlass.«
Annabeth starrte aufs Wasser. »Tut mir leid, Percy. Bei Tyson hab ich mich geirrt, okay? Ich wünschte, ich könnte ihm das sagen.«
Ich versuchte, weiterhin wütend auf sie zu sein, aber das war nicht leicht. Wir hatten so viel gemeinsam durchgemacht. Sie hatte mir immer wieder das Leben gerettet. Es wäre blöd von mir gewesen, länger zu schmollen.
Ich betrachtete unsere wenigen Habseligkeiten – die leere Thermosflasche, die Vitaminbonbons. Ich dachte an Lukes wütendes Gesicht, als ich versucht hatte, mit ihm über seinen Vater zu sprechen …
»Annabeth, wie lautet Chirons Weissagung?«
Sie schürzte die Lippen. »Percy, ich darf nicht …«
»Ich weiß, dass Chiron den Göttern gelobt hat, mir nichts zu sagen. Aber du hast kein Gelübde abgelegt, oder?«
»Wissen ist nicht immer gut für dich.«
»Deine Mutter ist die Göttin der Weisheit!«
»Weiß ich. Aber wenn Heroen von der Zukunft erfahren, versuchen sie immer, sie zu ändern, und das klappt nie.«
»Die Götter machen sich Sorgen über etwas, das ich tun werde, wenn ich älter bin«, tippte ich. »Und zwar, wenn ich sechzehn werde.«
Annabeth drehte die Yankees-Mütze in ihren Händen. »Percy, ich kenne nicht die ganze Weissagung, aber es geht um ein Halbblutkind der Großen Drei – das nächste, das dieses Alter erreicht. Das ist der wahre Grund, aus dem Zeus, Poseidon und Hades nach dem Zweiten Weltkrieg geschworen haben, keine Kinder mehr zu zeugen. Das nächste Kind der Großen Drei, das sechzehn Jahre alt wird, wird eine gefährliche Waffe sein.«
»Wie das?«
»Weil es das Schicksal des Olymps entscheiden wird. Er – oder sie, wenn es eine Heldin ist – wird eine Entscheidung treffen, die entweder das Zeitalter der Götter rettet … oder es zerstört.«
Ich ließ diese Mitteilung erst einmal sacken. Ich werde sonst nicht seekrank, aber plötzlich war mir doch schlecht. »Deshalb hat Kronos mich vorigen Sommer nicht umgebracht.«
Sie nickte. »Du könntest noch sehr nützlich für ihn werden. Wenn er dich auf seine Seite bringen kann, dann kriegen die Gottheiten ernsthaft Ärger.«