»Aber wenn sich die Weissagung auf mich bezieht …«
»Das können wir nur erfahren, wenn du noch drei Jahre überlebst. Das kann für ein Halbblut eine sehr lange Zeit sein. Als Chiron damals von Thalia gehört hat, hat er angenommen, dass sie mit der Weissagung gemeint war. Deshalb wollte er sie unbedingt im Camp in Sicherheit bringen. Dann ist sie im Kampf gefallen und wurde in eine Fichte verwandelt und wir wussten alle nicht, was wir davon halten sollten … bis du gekommen bist.«
Auf unserer Backbordseite tauchte eine dornige grüne Rückenflosse von etwa drei Metern Länge aus dem Wasser auf und verschwand wieder. Ich registrierte das nur am Rande. Ich hatte dringlichere Probleme.
»Dieses Halbblut in der Weissagung … das kann nicht vielleicht ein Zyklop sein?«, fragte ich. »Die drei Großen haben doch jede Menge Monsterkinder.«
Annabeth schüttelte den Kopf. »Das Orakel hat Halbblut gesagt. Das bedeutet immer halb Mensch, halb Gott. Und es ist einfach niemand am Leben, der es sein könnte … außer dir.«
»Aber warum lassen die Götter mich dann überhaupt am Leben? Es wäre doch sicherer, mich umzubringen.«
»Da hast du Recht.«
»Danke sehr.«
»Percy, ich weiß es nicht. Ich nehme an, einige Gottheiten würden dich gern töten, aber sie haben vermutlich Angst vor Poseidon. Andere Götter … vielleicht beobachten sie dich noch und versuchen herauszufinden, was für eine Art Held du sein wirst. Du könntest ja auch eine Waffe für ihr Überleben sein. Die wirkliche Frage ist … was wirst du in drei Jahren tun? Welche Entscheidung wirst du treffen?«
»Hat die Weissagung irgendwelche Andeutungen gemacht?«
Annabeth zögerte.
Vielleicht hätte sie mir mehr erzählt, aber gerade in diesem Moment ließ eine Möwe sich aus dem Nirgendwo fallen und landete auf unserem improvisierten Mast. Annabeth machte ein verdutztes Gesicht, als die Möwe ihr ein kleines Blätterbündel in den Schoß fallen ließ.
»Land«, sagte sie. »In der Nähe ist Land.«
Ich setzte mich auf. Und wirklich, in der Ferne sah ich eine blaue und braune Linie. Eine Minute später konnte ich eine Insel mit einem kleinen Berg in der Mitte erkennen, dazu blendend weiße Häuser, einen Strand voller Palmen und einen Hafen, in dem eine seltsame Ansammlung von Booten vor Anker lag.
Die Strömung zog unser Ruderboot zu dieser Insel, die mir wie ein tropisches Paradies vorkam.
»Willkommen«, sagte die Frau mit dem Klemmbrett.
Sie sah aus wie eine Stewardess – blaues Kostüm, perfektes Make-up, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare. Sie schüttelte uns die Hände, als wir auf die Hafenmauer stiegen, und lächelte uns dermaßen strahlend an, als hätten wir soeben die Prinzessin Andromeda verlassen und kein ramponiertes Ruderboot.
Allerdings war unser Ruderboot wirklich nicht das sonderbarste Fahrzeug hier im Hafen. Neben etlichen Vergnügungsyachten lag dort ein U-Boot der U.S. Navy, dazu einige Einbäume und ein altmodischer Dreimastsegler. Es gab einen kleinen Flugzeugträger, auf dem ein Channel-Five-Fort-Lauderdale-Hubschrauber stand, und dazu eine kurze Startbahn mit einem Kampfjet und einer Propellermaschine, die aussah wie ein Kampfflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg. Vielleicht waren das Nachbildungen, die Touristen besichtigen konnten, oder so etwas.
»Seid ihr zum ersten Mal bei uns?«, fragte die Frau mit dem Klemmbrett.
Annabeth und ich wechselten einen Blick. Annabeth sagte: »Äh …«
»Erstes-Mal-Wellness«, notierte die Frau. »Mal sehen …«
Sie musterte uns kritisch von Kopf bis Fuß. »Hm. Als Erstes eine Kräuterpackung für die junge Dame. Und natürlich eine Generalüberholung für den jungen Herrn.«
»Eine was?«, fragte ich.
Sie war zu sehr mit ihren Notizen beschäftigt, um zu antworten.
»So«, sagte sie mit strahlendem Lächeln. »Na, ich bin sicher, C.C. wird noch vor dem hawaiischen Grillfest persönlich mit euch sprechen wollen. Also kommt bitte mit.«
Das muss ich jetzt erklären. Annabeth und ich waren an Fallen gewöhnt und meistens sahen diese Fallen auf den ersten Blick verlockend aus. Also erwartete ich, dass die Klemmbrettfrau sich jeden Moment in eine Schlange oder einen Dämon oder so etwas verwandeln würde. Aber andererseits waren wir fast den ganzen Tag mit einem Ruderboot unterwegs gewesen. Ich war müde, verschwitzt und hungrig, und als diese Frau das Grillfest erwähnte, machte mein Magen Männchen und bettelte wie ein Hund.
»Schaden kann es ja nicht«, murmelte Annabeth.
Natürlich konnte es schaden, aber wir gingen trotzdem hinter der Frau her. Ich behielt die Hände in den Taschen, wo ich meine einzigen magischen Waffen untergebracht hatte – Hermes’ Vitaminbonbons und Springflut –, aber je tiefer wir in den Kurort hineingingen, umso schneller vergaß ich sie.
Es war wirklich überwältigend. Weißer Marmor und blaues Wasser, wohin ich auch sah. Terrassen zogen sich am Hang hoch, mit Swimming-Pools auf jeder Ebene, verbunden durch Wasserrutschen und Wasserfälle und Unterwasserröhren, durch die man schwimmen konnte. Springbrunnen ließen Wasser in die Luft aufstieben und das Wasser bildete unglaubliche Figuren, zum Beispiel fliegende Adler und galoppierende Pferde.
Tyson liebte Pferde. Ich wusste, dass er von diesen Springbrunnen begeistert sein würde. Ich hätte mich fast umgedreht, um sein Gesicht zu sehen, aber dann fiel mir ein: Tyson war nicht mehr da.
»Alles in Ordnung mit dir?« Annabeth blickte mich an. »Du siehst blass aus.«
»Schon gut«, log ich. »Nur … ach, gehen wir weiter.«
Wir kamen an allen möglichen zahmen Tieren vorbei. Eine Wasserschildkröte zupfte an einem Stapel von Badetüchern. Ein Leopard streckte sich im Schlaf auf einem Sprungbrett. Die Badegäste – offenbar nur junge Frauen – räkelten sich in Liegestühlen, tranken Frucht-Smoothies oder lasen Zeitschriften, während Kräutermatsche auf ihren Gesichtern trocknete und Handpflegerinnen in weißen Uniformen sich ihren Nägeln widmeten.
Als wir eine Treppe zu einem Haus hochstiegen, das ich für das Hauptgebäude hielt, hörte ich eine Frau singen. Ihr Gesang schwebte wie ein Schlaflied durch die Luft. Sie sang nicht auf Altgriechisch, aber es war eine ebenso alte Sprache, Minoisch vielleicht oder etwas Ähnliches. Ich konnte verstehen, wovon das Lied handelte – von Mondschein in Olivenhainen, von den Farben des Sonnenaufgangs. Und von Magie. Es hatte mit Magie zu tun. Ihre Stimme schien mich von der Treppe abheben zu lassen und zu ihr zu tragen.
Wir betraten einen großen Raum, dessen eine Wand nur aus Fenstern bestand. Spiegel bildeten die Rückwand, deshalb schien der Raum einfach kein Ende zu nehmen. Es gab jede Menge teuer aussehender weißer Möbel und auf einem Tisch in der Ecke stand ein großer Drahtkäfig. Der Käfig wirkte hier fehl am Platze, aber ich dachte nicht weiter darüber nach, denn nun sah ich die Frau, die gesungen hatte, und … oha!
Sie saß an einem Webstuhl von der Größe eines Großbildfernsehers und ihre Hände führten mit erstaunlicher Geschicklichkeit bunte Fäden hin und her. Das Gewebe schimmerte und wirkte dreidimensional – eine Wasserfallszene, die so wirklich aussah, dass sich das Wasser bewegte und die Wolken über den Stoffhimmel zogen.
Annabeth hielt den Atem an. »Das ist wunderschön.«
Die Frau drehte sich um. Sie war noch schöner als ihr Gewebe. In ihre langen dunklen Haare waren Goldfäden geflochten. Sie hatte durchdringende grüne Augen und trug ein schwarzes Seidenkleid mit Mustern, die sich im Stoff zu bewegen schienen, Tierschatten, schwarz auf schwarz, wie Wild, das durch einen nächtlichen Wald huscht.
»Meine Weberei gefällt dir, meine Liebe?«, fragte die Frau.
»O ja, Ma’am«, sagte Annabeth. »Meine Mutter ist …«
Sie unterbrach sich. Sie durfte nicht einfach hinausposaunen, dass ihre Mom Athene war, die Göttin, die den Webstuhl erfunden hatte. Die meisten Leute hätten da nach der Zwangsjacke geschrien.