»Wie?«, würgte Circe mit Mühe hervor.
Annabeth hielt die Vitaminflasche so hoch, dass die Zauberin sie sehen konnte.
Circe heulte vor Wut. »Fluch über Hermes und seine Vitamine! Die sind der pure Betrug! Sie helfen überhaupt nicht!«
»Mach aus Percy wieder einen Menschen, oder –«, sagte Annabeth.
»Ich kann nicht.«
»Dann beklag dich hinterher nicht.«
Circes Assistentinnen sprangen vor, aber ihre Herrin sagte: »Zurück! Sie ist immun gegen Magie, bis dieses verdammte Vitamin seine Wirkung verliert.«
Annabeth zerrte Circe zum Meerschweinchenkäfig, riss den Deckel herunter und kippte die restlichen Vitaminbonbons hinein.
»Nein!«, kreischte Circe.
Ich bekam als Erster ein Vitamin, aber alle anderen Meerschweinchen drängten sich sofort zusammen, um ebenfalls dieses neue Nahrungsmittel zu testen.
Schon nach dem ersten Knabbern fühlte ich in mir ein Feuer. Ich nagte an dem Bonbon, bis es nicht mehr so groß aussah und der Käfig kleiner wurde, und dann, plötzlich, peng, barst der Käfig. Ich saß auf dem Boden und war wieder ein Mensch – und aus irgendwelchen Gründen trug ich auch wieder meine Kleider, den Göttern sei Dank –, zusammen mit sechs anderen Typen, die allesamt verwirrt aussahen, blinzelten und sich Holzwolle aus den Haaren klaubten.
»Nein!«, schrie Circe. »Du hast doch keine Ahnung. Das sind die Schlimmsten!«
Einer der Männer stand auf – ein riesiger Typ mit langem, verfilztem pechschwarzem Bart und Zähnen von derselben Farbe. Er trug Kleider aus Wolle und Leder, dazu kniehohe Stiefel und einen weichen Filzhut. Die anderen Männer waren schlichter gekleidet, in Kniehosen und verdreckten weißen Hemden. Alle waren barfuß.
»Arrrgh!«, brüllte der große Typ. »Was hat die Hex’ mir angetan!«
»Nein!«, stöhnte Circe.
Annabeth keuchte. »Jetzt erkenne ich Sie! Edward Teach, Sohn des Ares?«
»Sehr wohl, Jungfer«, knurrte der Mann. »Auch wenn ich gemeinhin Schwarzbart geheißen werde. Und da ist die Hex’, die uns gefangen hat, Männer. Stecht sie nieder, und dann werde ich mir eine große Schüssel Sellerie suchen. Arrgggh!«
Circe schrie auf. Sie und ihre Assistentinnen rannten hinaus, die Piraten hinterher.
Annabeth steckte ihr Messer in die Scheide und sah mich wütend an.
»Danke«, stammelte ich. »Tut mir wirklich leid …«
Ehe ich mir überlegt hatte, wie man sich für eine derartige Eselei entschuldigt, umarmte sie mich kurz und schob mich dann ebenso plötzlich wieder von sich. »Ich bin froh, dass du kein Meerschweinchen mehr bist.«
»Ich auch.« Ich hoffte, dass mein Gesicht nicht so rot war, wie es sich anfühlte.
Sie löste ihre goldenen Zöpfe.
»Na los, Algenhirn«, sagte sie. »Wir müssen weg hier, solange Circe noch abgelenkt ist.«
Wir rannten über die Terrassen den Hang hinunter, vorbei an kreischenden Angestellten und den Piraten, die den Ort plünderten. Schwarzbarts Männer rissen die Fackeln am Grillplatz herunter, warfen Kräuterpackungen in den Pool und stießen Tische mit Saunahandtüchern um.
Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil wir diese brutalen Piraten freigelassen hatten, aber ich fand doch, dass sie sich nach dreihundert Jahren im Käfig eine andere Unterhaltung verdient hatten als das Laufrad.
»Welches Schiff?«, fragte Annabeth, als wir uns dem Hafen näherten.
Ich schaute mich verzweifelt um. Wir konnten ja kaum unser Ruderboot nehmen. Wir mussten die Insel ganz schnell verlassen, aber womit? Mit einem U-Boot? Einem Kampfjet? Ich hätte beides nicht lenken können. Und dann sah ich es.
»Das«, sagte ich.
Annabeth kniff die Augen zusammen. »Aber …«
»Damit kann ich umgehen.«
»Wie denn?«
Das konnte ich nicht erklären. Ich wusste einfach, dass ich auf ein altes Segelboot setzen musste. Ich nahm Annabeths Hand und zog sie zu dem Dreimaster. Am Bug war ein Name aufgemalt, den ich erst später entziffern sollte: Königin Annes Rache.
»Arrgh!«, schrie irgendwo hinter uns Schwarzbart. »Diese Lumpen entern meinen Kahn. Auf sie, Jungs!«
»Das schaffen wir doch nie im Leben«, schrie Annabeth, als wir an Bord kletterten.
Ich schaute mich in dem hoffnungslosen Labyrinth aus Segeln und Trossen um. Das Schiff war für seine dreihundert Jahre in sehr gutem Zustand, aber trotzdem würde eine fünfzigköpfige Mannschaft viele Stunden brauchen, um es abfahrbereit zu machen. Und uns blieben keine Stunden. Ich konnte hören, wie die Piraten die Treppen herunterstürzten. Dabei schwenkten sie Fackeln und Selleriestangen.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen, auf die Meeresströmungen, auf die Winde, die mich umwehten. Und plötzlich tauchte in meinem Kopf das richtige Wort auf.
»Kreuzmast«, rief ich.
Annabeth schien mich für verrückt zu halten, aber gleich darauf war die Luft erfüllt mit dem Pfeifen von Trossen, die angespannt wurden, von sich öffnenden Segeltuchflächen, vom Ächzen der Mastbäume.
Annabeth zog den Kopf ein, als ein Seil über ihren Kopf flog und sich um das Bugspriet wickelte. »Percy, wie …«
Ich wusste die Antwort nicht, aber ich spürte, wie das Schiff auf meine Befehle reagierte, als wäre es ein Teil meines Körpers. Ich befahl den Segeln, sich selbst zu hissen, und das war so leicht, wie einen Arm zu bewegen. Ich befahl dem Steuerruder, sich zu drehen.
Königin Annes Rache legte ab, und als die Piraten das Hafenbecken erreicht hatten, waren wir schon unterwegs zu unserem Segeltörn auf dem Meer der Ungeheuer.
Annabeth will nach Hause schwimmen
Endlich hatte ich etwas gefunden, das ich gut konnte.
Die Königin Annes Rache reagierte auf jeden meiner Befehle. Ich wusste, welche Seile ich straffen musste, welche Segel zu hissen waren, in welche Richtung ich zu steuern hatte. Wir durchpflügten die Wellen mit einer Geschwindigkeit, die ich auf zehn Knoten schätzte. Ich wusste sogar, wie schnell das war. Für einen Segler war es ganz schön schnell.
Alles kam mir perfekt vor – der Wind in meinem Gesicht, die Wellen, die sich über dem Bug brachen.
Aber jetzt, wo wir der Gefahr entronnen waren, konnte ich nur daran denken, wie sehr mir Tyson fehlte und welche Angst ich um Grover hatte.
Ich kam nicht darüber hinweg, wie blödsinnig ich mich auf Circes Insel aufgeführt hatte. Ohne Annabeth wäre ich noch immer ein Nagetier, das sich mit einem Haufen niedlicher bepelzter Piraten in einem Häuschen versteckt. Ich dachte daran, was Circe gesagt hatte: Siehst du, Percy? Du hast dein wahres Ich freigesetzt!
Ich kam mir verändert vor. Nicht nur, weil ich plötzlich großen Appetit auf grünen Salat hatte. Ich war nervös … als sei mir der Instinkt eines ängstlichen kleinen Tieres in Fleisch und Blut übergegangen. Oder hatte ich den vielleicht schon immer gehabt? Das machte mir nun wirklich Sorgen.
Wir segelten durch die Nacht.
Annabeth versuchte, mir beim Ausschauhalten zu helfen, aber ihr bekam das Segeln nicht. Nach einigen Stunden Geschaukel nahm ihr Gesicht die Farbe von Avocadocreme an und sie ging unter Deck, um sich in eine Hängematte zu legen.
Ich behielt den Horizont im Auge. Mehr als einmal entdeckte ich Monster. Eine wolkenkratzerhohe Wassersäule wurde ins Mondlicht gespien. Eine Reihe von grünen Rückenflossen huschte durch die Wellen – ein Reptil von an die dreißig Meter Länge. Ich wollte eigentlich gar nicht wissen, was das war.
Einmal sah ich Nereiden, die leuchtenden Geisterdamen des Meeres. Ich versuchte ihnen zuzuwinken, aber sie verschwanden in der Tiefe und ich wusste nicht, ob sie mich gesehen hatten oder nicht.
Irgendwann gegen Mitternacht kam Annabeth wieder an Deck. Wir passierten gerade eine Insel mit einem rauchenden Vulkan. Am Ufer siedete und dampfte das Wasser.