»Eine der Schmieden des Hephaistos«, sagte Annabeth. »Da stellt er seine Metallungeheuer her.«
»Wie die Bronzestiere?«
Sie nickte. »Mach einen Bogen um die Insel. Einen großen Bogen.«
Das brauchte sie mir nicht zweimal zu sagen. Wir umsegelten die Insel und bald war sie nur noch eine rote Nebelfläche hinter uns.
Ich sah Annabeth an. »Der Grund, aus dem du Zyklopen so sehr hasst … und die Geschichte, wie Thalia wirklich gestorben ist. Was ist passiert?«
Es war schwer, in der Dunkelheit ihren Gesichtsausdruck zu erkennen.
»Ich nehme an, du hast das Recht, es zu erfahren …«, sagte sie endlich. »In der Nacht, in der Grover uns zum Camp bringen sollte, kam er durcheinander, er schlug den falschen Weg ein. Du weißt doch noch, dass er das einmal erzählt hat?«
Ich nickte.
»Also, sein schlimmster Irrtum war, dass er uns in einen Zyklopenbau in Brooklyn geführt hat.«
»In Brooklyn gibt es Zyklopen?«
»Du hast ja keine Ahnung, wie viele, aber darum geht es nicht. Dieser Zyklop … er hat uns ausgetrickst. Er hat es geschafft, uns in einem Labyrinth von Gängen in einem alten Haus in Flatbush voneinander zu trennen. Er konnte jede Stimme nachmachen, Percy … genau wie Tyson auf der Prinzessin Andromeda. Er hat uns an der Nase herumgeführt, alle nacheinander. Thalia glaubte, Luke zu retten. Luke glaubte, mich um Hilfe schreien gehört zu haben. Und ich … ich war allein in der Dunkelheit. Ich war sieben Jahre alt. Ich konnte einfach keinen Ausgang finden.«
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich weiß noch, wie ich in sein Wohnzimmer kam. Es lagen überall Knochen auf dem Boden. Und da waren Thalia und Luke und Grover … gefesselt und geknebelt, sie hingen unter der Decke wie Räucherschinken. Der Zyklop machte gerade mitten im Zimmer Feuer. Ich zog mein Messer, aber er hatte mich gehört. Er drehte sich um und lächelte. Er sprach … und aus irgendeinem Grund kannte er die Stimme meines Vaters. Ich nehme an, er hatte sie aus meinen Gedanken gefischt. Er sagte: Ach, Annabeth, mach dir keine Sorgen. Ich liebe dich. Du kannst hier bei mir bleiben. Du kannst immer bei mir bleiben.«
Ich zitterte. So, wie sie das erzählte – noch jetzt, sechs Jahre später – machte es mich mehr fertig als die gruseligste Gespenstergeschichte, die ich je gehört hatte. »Was hast du getan?«
»Ich hab ihm in den Fuß gestochen.«
Ich starrte sie an. »Machst du Witze? Du warst sieben Jahre alt und hast einem ausgewachsenen Zyklopen in den Fuß gestochen?«
»Klar, er hätte mich normalerweise umgebracht. Aber ich habe ihn überrascht. Und das hat mir gerade genug Zeit gegeben, um zu Thalia zu rennen und ihre Hände von den Fesseln zu befreien. Und den Rest hat sie dann gemacht.«
»Ja, aber trotzdem … das war ganz schön mutig von dir, Annabeth.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir wären fast nicht lebend davongekommen. Und ich hab noch immer Albträume, Percy … davon, wie der Zyklop mit der Stimme meines Vaters gesprochen hat. Es war seine Schuld, dass wir so lange gebraucht haben, um uns ins Camp durchzuschlagen. Alle Monster, die hinter uns her waren, hatten inzwischen genügend Zeit gehabt, uns einzuholen. Und das ist der wahre Grund, warum Thalia gestorben ist. Ohne diesen Zyklopen wäre sie heute noch am Leben.«
Wir saßen an Deck und sahen zu, wie das Sternbild Herkules am Himmel höher stieg.
»Geh nach unten«, sagte Annabeth endlich zu mir. »Du brauchst Ruhe.«
Ich nickte. Meine Augen waren schwer. Aber als ich mir unten eine Hängematte gesucht hatte, brauchte ich doch lange, bis ich einschlafen konnte. Ich musste immer wieder an Annabeths Geschichte denken. Ich fragte mich, ob ich an ihrer Stelle, nach allem, was sie durchgemacht hatte, den Mut aufgebracht hätte, mich auf diese Fahrt zu begleiten … und geradewegs in die Höhle eines anderen Zyklopen zu segeln.
Ich träumte nicht von Grover.
Stattdessen stand ich wieder in Lukes Suite auf der Prinzessin Andromeda. Die Vorhänge waren offen. Es war Nacht. In der Luft wirbelten Schatten umher. Überall in meiner Nähe flüsterten Stimmen – die Geister der Toten.
Hüte dich, flüsterten sie. Fallen. Tricks.
Kronos’ goldener Sarkophag glühte schwach – als einzige Lichtquelle im ganzen Raum.
Ein kaltes Lachen stürzte mich in Verwirrung. Es schien meilenweit unter dem Schiff hervorzukommen. Du hast nicht genug Mut, junger Mann. Du kannst mich nicht aufhalten.
Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich musste diesen Sarg öffnen.
Ich drehte die Kappe von Springflut. Geister umwirbelten mich wie ein Tornado. Hüte dich!
Mein Herz hämmerte. Ich konnte meine Füße nicht bewegen, aber ich musste Kronos aufhalten. Ich musste zerstören, was immer sich in diesem Sarg befand.
Da sagte dicht neben mir eine Mädchenstimme: »Also, Algenhirn?«
Ich drehte mich um und rechnete damit, Annabeth zu erblicken, aber es war nicht Annabeth. Dieses Mädchen war etwas älter als ich, vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Sie war gekleidet wie ein Punk und trug Silberketten um das Handgelenk. Sie hatte schwarze Stachelhaare, schwarze Tusche um ihre stürmischen grünen Augen und jede Menge Sommersprossen auf der Nase. Sie kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht recht, warum.
»Also?«, fragte sie. »Werden wir ihn aufhalten oder nicht?«
Ich konnte keine Antwort geben. Ich konnte mich nicht bewegen.
Das Mädchen verdrehte die Augen. »Schön. Dann überlass die Sache mir und Aigis.«
Sie tippte auf ihr Handgelenk und ihre Silberketten verwandelten sich – sie wurden flach und dehnten sich zu einem riesigen Schild aus. Er war aus Silber und Bronze und aus der Mitte ragte das entsetzliche Gesicht der Medusa hervor. Es sah aus wie eine Totenmaske, als sei der wahre Kopf der Gorgo in das Metall gepresst worden. Ich wusste nicht, ob das möglich war und ob der Schild mich wirklich zu Stein erstarren lassen würde, aber ich wandte mich ab. Allein durch seine Nähe wurde mir vor Angst eiskalt. Ich hatte das Gefühl, dass die Trägerin dieses Schildes in einem echten Kampf fast unbesiegbar sein würde. Jeder Feind, der noch bei Verstand war, würde auf dem Absatz kehrtmachen und fliehen.
Das Mädchen zog das Schwert und ging auf den Sarkophag zu. Die schattenhaften Geister wichen vor ihr auseinander, um der schrecklichen Aura ihres Schildes zu entkommen.
»Nein«, versuchte ich sie zu warnen.
Aber sie hörte nicht auf mich. Sie marschierte auf den Sarkophag zu und stieß den goldenen Deckel beiseite.
Einen Moment lang blieb sie dort stehen und starrte an, was immer sich darin befinden mochte.
Der Sarg fing an zu glühen.
»Nein.« Die Stimme des Mädchens zitterte. »Das kann nicht sein.«
Von den Tiefen des Ozeans herauf lachte Kronos, so laut, dass das ganze Schiff bebte.
»Nein!« Das Mädchen schrie, als der Sarkophag sie in eine Woge aus goldenem Licht hüllte.
»Ah!« Ich fuhr kerzengerade in meiner Hängematte hoch.
Annabeth schüttelte mich. »Percy, du hattest einen Albtraum. Du musst aufstehen.«
»W…was ist los?« Ich rieb mir die Augen. »Was ist passiert?«
»Land«, sagte sie düster. »Wir nähern uns der Insel der Sirenen.«
Ich konnte die Insel vor uns kaum erkennen, nur einen dunklen Fleck im Nebel.
»Bitte, tu mir einen Gefallen«, sagte Annabeth. »Die Sirenen … bald können wir ihren Gesang hören.«
Ich konnte mich an Geschichten über die Sirenen erinnern. Sie sangen so lieblich, dass ihre Stimmen Seeleute einlullten und in den Tod lockten.
»Kein Problem«, versicherte ich ihr. »Wir können uns doch einfach die Ohren verstopfen. Unter Deck liegt eine große Tube Kerzenwachs …«
»Ich möchte sie hören.«
Ich blinzelte. »Wieso?«
»Angeblich … angeblich singen die Sirenen die Wahrheit über das, was man sich wünscht. Sie sagen dir Dinge über dich, die nicht einmal dir selber klar waren. Das ist so zauberhaft an ihrem Gesang. Wenn du überlebst … wirst du klüger sein. Ich möchte sie hören. Wie oft werde ich wohl so eine Gelegenheit haben?«