Bei den meisten anderen Leuten hätte das keinen Sinn ergeben. Aber da Annabeth nun einmal so war, wie sie war – na ja, wenn sie sich durch altgriechische Bücher über Architektur kämpfen und Dokumentarfilme im History Channel genießen konnte, dann würden die Sirenen ihr wohl auch gefallen.
Sie teilte mir ihren Plan mit. Widerstrebend half ich ihr bei den Vorbereitungen.
Kaum waren die felsigen Umrisse der Insel zu sehen, befahl ich einem Seil, sich um Annabeths Taille zu legen und sie an den Fockmast zu fesseln.
»Bind mich nicht los«, sagte sie. »Egal, was passiert und wie sehr ich dich auch anflehe. Ich würde dann bestimmt über Bord springen und mich ertränken.«
»Willst du mich in Versuchung führen?«
»Ha, ha.«
Ich versprach, für ihre Sicherheit zu sorgen. Dann nahm ich mir zwei dicke Stücke Kerzenwachs, knetete daraus Ohrenstöpsel und verstopfte meine Ohren.
Annabeth nickte sarkastisch, als wollte sie mir mitteilen, die Stöpsel entsprächen der letzten Mode. Ich schnitt ihr eine Grimasse und wandte mich dem Steuerrad zu.
Die Stille war unheimlich. Ich konnte außer dem Rauschen des Blutes in meinem Kopf nichts hören. Als wir uns der Insel näherten, hoben sich gezackte Felsen aus dem Nebel. Ich befahl der Königin Annes Rache, im Bogen um sie herumzusegeln. Wenn wir noch näher kämen, würden die Felsen Kleinholz aus dem Schiffsrumpf machen.
Ich schaute mich um. Zuerst kam Annabeth mir ganz normal vor. Dann machte sie ein verwirrtes Gesicht. Ihre Augen weiteten sich.
Sie riss an ihren Fesseln. Sie rief meinen Namen … das konnte ich von ihren Lippen ablesen. Ihr Gesichtsausdruck sprach eine deutliche Sprache: Sie musste weg hier. Es war eine Frage von Leben und Tod. Ich musste sie sofort losbinden.
Sie sah so verzweifelt aus, dass es mir schwerfiel, ihr nicht zu gehorchen.
Ich zwang mich, in eine andere Richtung zu blicken. Ich befahl der Königin Annes Rache, schneller zu werden.
Ich konnte noch immer nicht viel von der Insel sehen – nur Nebel und Felsen –, aber im Wasser trieben Holz- und Glasfaserstücke, Reste von alten Schiffen und sogar Rettungskissen aus Flugzeugen.
Wie konnte Musik so viele Menschen aus der Bahn werfen? Ich meine, gut, es gab ein paar Hits, bei denen ich auch ausflippte, aber trotzdem … wovon mochten diese Sirenen denn bloß singen?
Einen gefährlichen Augenblick lang konnte ich Annabeths Neugier verstehen. Ich hatte Lust, mir die Wachspfropfen aus den Ohren zu ziehen, nur um einen Moment dem Gesang zuzuhören. Ich spürte, wie die Stimmen der Sirenen das Holz des Schiffes vibrieren ließen, wie sie mit dem Dröhnen des Blutes zusammen in meinen Ohren pulsierten.
Annabeth flehte mich an. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie zerrte an den Seilen, als ob die sie an allem hinderten, was ihr etwas bedeutete.
Wie kannst du so grausam sein, schien sie mich zu fragen. Und dabei habe ich dich für meinen Freund gehalten!
Ich starrte die dunstige Insel an. Ich hätte gern die Kappe von meinem Schwert gedreht, aber es gab ja nichts, wogegen ich kämpfen könnte. Wie kämpft man gegen ein Lied?
Ich gab mir alle Mühe, Annabeth nicht anzusehen. Ich schaffte es ungefähr fünf Minuten lang.
Das war mein großer Fehler.
Als ich es nicht mehr ertragen konnte, drehte ich mich um und sah … einen Haufen zerschnittener Seile. Einen leeren Mast. Annabeths Bronzemesser lag auf dem Deck. Irgendwie hatte sie es zu fassen bekommen. Ich hatte völlig vergessen, sie zu entwaffnen.
Ich stürzte an die Reling und sah sie wie besessen auf die Insel zuschwimmen. Die Wellen würden sie gleich auf die gezackten Felsen werfen.
Ich schrie ihren Namen, aber wenn sie mich gehört hatte, dann reagierte sie nicht. Sie war in Trance und schwamm dem sicheren Tod entgegen.
Ich drehte mich zum Steuerrad um und schrie: »Hiergeblieben!«
Dann sprang ich über Bord.
Ich tauchte unter und befahl den Strömungen, sich um mich zu legen und einen Strahl zu bilden, der mich vorwärtsschießen ließ.
Ich kam wieder an die Oberfläche und entdeckte Annabeth, doch eine Welle erfasste sie und warf sie zwischen zwei rasiermesserscharfe Felsnadeln.
Ich hatte keine andere Wahl. Ich schwamm hinterher.
Ich tauchte unter dem Wrack einer Yacht hindurch und bahnte mir einen Weg durch eine Sammlung von schwimmenden Metallkugeln an Ketten, von denen mir erst später aufging, dass es sich um Minen gehandelt hatte. Über Wasser musste ich alle meine Kraft aufwenden, um nicht gegen die Felsen geschleudert zu werden oder mich in den Netzen aus Stacheldraht zu verfangen, die dicht unter der Wasseroberfläche ausgelegt waren.
Ich schoss zwischen den zwei Felsnadeln hindurch und gelangte in eine halbmondförmige Bucht. Im Wasser wimmelte es nur so von Felsen und Wracks und Treibminen. Der Strand bestand aus schwarzem vulkanischem Sand.
Ich hielt verzweifelt Ausschau nach Annabeth.
Und da war sie.
Glücklicherweise oder unglücklicherweise war sie eine gute Schwimmerin. Sie war an Minen und Felsen vorbeigelangt und hatte den schwarzen Strand fast erreicht.
Dann verschwand der Nebel und ich sah sie – die Sirenen.
Stellt euch eine Schar von menschengroßen Geiern vor, mit schmutzigem grauem Gefieder, grauen Krallen und runzligen rosa Hälsen. Und dann stellt euch auf diesen Hälsen Menschenköpfe vor, aber Menschenköpfe, die sich dauernd verändern.
Ich konnte sie nicht hören, aber ich konnte sehen, dass sie sangen. Und während sich ihre Münder bewegten, sahen ihre Gesichter aus wie die von Leuten, die ich kannte – wie meine Mom, Poseidon, Grover, Tyson, Chiron. Alle die, nach denen ich mich besonders sehnte. Sie lächelten ermutigend, winkten mich zu sich, aber welche Form sie auch annahmen, immer waren ihre Münder fettig und verklebt mit den Überresten früherer Mahlzeiten. Wie Geier hatten sie ihr ganzes Gesicht in die Nahrung versenkt und sie sahen nicht so aus, als ob sie sich mit Monster-Donuts zufriedengegeben hätten.
Annabeth schwamm auf sie zu.
Ich wusste, dass ich sie nicht aus dem Wasser lassen durfte. Das Meer war mein einziger Vorteil. Es hatte mich immer auf irgendeine Weise beschützt. Ich warf mich vorwärts und packte ihren Knöchel.
Als ich sie berührte, jagte eine Schockwelle durch meinen Körper … und ich sah die Sirenen so, wie Annabeth sie offenbar sah.
Drei Personen saßen auf einer Picknickdecke im Central Park. Vor ihnen waren lauter Leckerbissen ausgebreitet. Ich erkannte Annabeths Dad von Fotos her, die sie mir gezeigt hatte – einen sportlich aussehenden Typen von Mitte vierzig mit sandfarbenen Haaren. Er hielt die Hand einer schönen Frau, die große Ähnlichkeit mit Annabeth hatte. Sie war lässig gekleidet, in Jeans, Jeanshemd und Wanderstiefeln, aber irgendwie strahlte diese Frau Macht aus. Ich wusste, dass ich die Göttin Athene sah. Neben den beiden saß ein junger Mann … Luke.
Die ganze Szene leuchtete in einem warmen, sonnengelben Licht. Die drei plauderten und lachten, und als sie Annabeth erblickten, strahlten sie vor Freude. Annabeths Eltern öffneten einladend ihre Arme. Luke grinste und winkte Annabeth zu sich – als ob er sie niemals verraten hätte, als ob er noch immer ihr Freund wäre.
Hinter den Bäumen des Central Parks zeichnete sich die Skyline der City ab. Ich hielt den Atem an, denn es war Manhattan, aber nicht mein Manhattan. Es war ganz und gar neu errichtet worden, aus blendend weißem Marmor, größer und großartiger denn je, mit goldenen Fenstern und Dachgärten. Es war schöner als New York. Schöner als der Olymp.
Ich wusste sofort, dass Annabeth das alles entworfen hatte. Sie war die Architektin einer ganzen neuen Welt. Sie hatte ihre Eltern wieder zusammengeführt. Sie hatte Luke gerettet. Sie hatte alles geschafft, was sie sich jemals gewünscht hatte.