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Ich kniff die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich nur noch die Sirenen – räudige Geier mit Menschengesichtern, bereit, ein weiteres Opfer zu zerhacken.

Ich zog Annabeth zurück in die Brandung. Ich konnte sie nicht hören, aber ich wusste, dass sie schrie. Sie trat mir ins Gesicht, aber ich hielt sie fest.

Ich befahl den Strömungen, uns in die Bucht hinauszutragen. Annabeth schlug und trat auf mich ein, was mir die Konzentration erschwerte. Sie haute dermaßen wütend zu, dass wir fast mit einer Treibmine kollidiert wären. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Wenn sie so weiterzappelte, würden wir nie zurück aufs Schiff gelangen.

Wir gingen unter und Annabeth hörte auf, sich zu wehren. Wenn ich sie lange genug unter Wasser hielt, würde ich den Zauber der Musik brechen können. Annabeth könnte dann natürlich nicht atmen, aber für den Moment schien mir das nicht das Hauptproblem zu sein.

Ich packte ihre Handgelenke und befahl den Wellen, uns nach unten zu pressen.

Wir schossen hinunter – drei Meter, sechs Meter. Ich wusste, dass ich vorsichtig sein musste, denn ich konnte größerem Druck standhalten als Annabeth. Sie kämpfte und rang um Atem, als um uns herum Blasen aufstiegen.

Blasen.

Ich war verzweifelt. Ich musste Annabeth am Leben erhalten. Ich stellte mir alle Blasen im Meer vor … die immer brodelten, immer aufstiegen. Ich stellte mir vor, dass sie sich zusammenschlossen und zu mir gezogen wurden.

Das Meer gehorchte. Ich sah einen weißen Wirbel, es war, als würde ich überall gekitzelt, und als ich wieder sehen konnte, waren Annabeth und ich von einer riesigen Luftblase umgeben. Nur unsere Beine hingen noch ins Wasser.

Sie keuchte und hustete. Sie zitterte am ganzen Leib, aber als sie mich ansah, wusste ich, dass der Bann gebrochen war.

Sie fing an zu schluchzen – ein schreckliches, herzzerreißendes Schluchzen. Sie legte den Kopf auf meine Schulter und ich zog sie an mich.

Fische strömten zusammen, um uns anzusehen, ein Schwarm von Barrakudas, ein paar neugierige Speerfische.

Verpisst euch, befahl ich ihnen.

Sie schwammen davon, aber ich wusste, dass sie es nicht gern taten. Ich schwöre, ich wusste, was sie im Schilde führten. Sie wollten sofort überall im Meer den Klatsch verbreiten, dass der Sohn des Poseidon auf dem Grund der Sirenenbucht mit einem Mädchen herumhing.

»Ich sorg dafür, dass wir aufs Schiff zurückkommen«, sagte ich zu ihr. »Ist schon gut. Lass mich einfach machen.«

Annabeth nickte, um mir zu verstehen zu geben, dass es ihr jetzt besser ging.

Sie murmelte etwas, das ich nicht hören konnte, weil ich ja Wachs in den Ohren hatte.

Ich befahl der Strömung, unser komisches kleines Unterseeboot durch Felsen und Stacheldraht zurück zum Rumpf der Königin Annes Rache zu bugsieren, die jetzt einen langsamen, stetigen Kurs von der Insel weg hielt.

Wir blieben unter Wasser und folgten dem Schiff, bis ich annahm, dass wir uns nicht mehr in Hörweite der Sirenen befanden. Dann ließ ich uns an die Oberfläche steigen und unsere Luftblase platzte.

Ich befahl einer Strickleiter, über die Reling zu fallen, und wir kletterten an Bord.

Ich behielt die Wachsstöpsel in den Ohren, sicherheitshalber. Wir segelten weiter, bis die Insel nicht mehr zu sehen war. Annabeth saß in eine Decke gewickelt auf dem Vorderdeck. Endlich blickte sie auf, verwirrt und traurig, und ihre Lippen formten das Wort: gerettet.

Ich zog die Stöpsel heraus. Kein Gesang. Es war ein stiller Nachmittag, ich konnte nur hören, wie das Wasser gegen den Schiffsrumpf schlug. Der Nebel war einem blauen Himmel gewichen, so als habe die Insel der Sirenen niemals existiert.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich. Und sofort merkte ich, wie lahm sich das anhörte. Natürlich war bei ihr nicht alles in Ordnung.

»Mir war das nicht klar«, murmelte sie.

»Was?«

Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie der Nebel über der Insel der Sirenen. »Wie mächtig die Versuchung sein würde …«

Ich wollte nicht zugeben, dass ich gesehen hatte, was die Sirenen ihr versprochen hatten. Ich kam mir vor wie ein Spanner. Aber ich hatte das Gefühl, es Annabeth schuldig zu sein.

»Ich habe gesehen, wie du Manhattan neu gebaut hattest«, sagte ich. »Und … Luke und deine Eltern.«

Sie wurde rot. »Das hast du gesehen?«

»Was Luke dir auf der Prinzessin Andromeda erzählt hat … dass die Welt neu erschaffen werden kann … das kannst du nicht vergessen, was?«

Sie zog ihre Decke fester um sich. »Mein großer Fehler. Das haben die Sirenen mir gezeigt. Mein größter Fehler ist Hybris.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Dieses braune Zeug, das man auf vegetarische Sandwiches schmiert?«

Sie verdrehte die Augen. »Nein, Algenhirn. Das ist Hummus. Hybris ist schlimmer.«

»Was könnte denn schlimmer sein als Hummus?«

»Hybris bedeutet tödlicher Hochmut, Percy. Sich einzubilden, dass man etwas besser kann als alle anderen … sogar als die Götter.«

»Das tust du?«

Sie schlug die Augen nieder. »Hast du nie das Gefühl … Was ist, wenn die Welt wirklich total kaputt ist? Was, wenn wir wirklich noch einmal ganz von vorne anfangen könnten? Kein Krieg mehr. Keine Obdachlosen mehr. Keine Hausarbeiten über die Sommerferien.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Ich meine, das Abendland steht für viele der besten Dinge, die der Menschheit je gelungen sind – deshalb brennt das Feuer ja noch immer. Deshalb gibt es den Olymp noch. Aber wir sehen manchmal nur das Schlechte, verstehst du? Und dann denken wir wie Luke: Wenn ich das alles einreißen könnte, würde ich alles besser machen. Hast du nie so ein Gefühl? Ich meine … dass du es besser machen könntest, wenn du über die Welt zu bestimmen hättest?«

»Äh … nein. Wenn ich über die Welt zu bestimmen hätte, das wäre ein Albtraum.«

»Dann hast du Glück. Dann ist Hybris nicht dein größter Fehler.«

»Aber was denn dann?«

»Das weiß ich nicht, Percy, aber jeder Heros hat einen. Wenn du den nicht findest und lernst, ihn zu beherrschen … na ja, solche Fehler werden ja nicht umsonst auch fatale Fehler genannt.«

Ich dachte darüber nach. Es versetzte mich nicht gerade in bessere Stimmung.

Mir fiel auch auf, dass Annabeth nichts über die persönlichen Dinge gesagt hatte, die sie gern ändern würde – ihre Eltern wieder zusammenzubringen oder Luke zu retten. Ich konnte das verstehen. Ich würde auch nicht zugeben wollen, wie oft ich davon geträumt hatte, meine Eltern wieder zusammenzuführen.

Ich stellte mir meine Mom vor, allein in unserer kleinen Wohnung auf der Upper East Side. Ich versuchte mich an den Duft ihrer blauen Waffeln in der Küche zu erinnern. Alles schien so weit weg zu sein.

»War es die Sache denn wert?«, fragte ich Annabeth. »Bist du jetzt … klüger?«

Sie starrte in die Ferne. »Ich bin nicht sicher. Aber wir müssen das Camp retten. Wenn wir Luke nicht stoppen …«

Sie brauchte diesen Satz nicht zu beenden. Wenn Lukes Ideen sogar Annabeth in Versuchung führen konnten, dann konnte niemand sagen, wie viele andere Halbblute sich ihm anschließen würden.

Ich dachte über meinen Traum von dem Mädchen und dem goldenen Sarkophag nach. Ich wusste nicht recht, was er bedeuten sollte, aber ich hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben … einen entsetzlichen Plan, den Kronos ausheckte. Was hatte das Mädchen erblickt, als es den Sargdeckel geöffnet hatte?

Plötzlich riss Annabeth die Augen auf. »Percy!«

Ich fuhr herum.

Vor uns tauchte ein neuer Flecken Land auf – eine sattelförmige Insel mit bewaldeten Hügeln und weißen Stränden und grünen Wiesen … wie ich sie in meinen Träumen gesehen hatte.

Meine Meeresinstinkte bestätigten es: 30° 31’ Nord, 75° 12’ West.

Wir hatten die Heimat des Zyklopen erreicht.

Wir treffen die Schafe der Verdammnis

Bei dem Wort »Monsterinsel« denkt man eigentlich an gezackte Felsen und am Strand herumliegende Knochen, wie auf der Insel der Sirenen.