Einen entsetzlichen Moment lang blieb alles still. Dann rief Annabeth: »Besser werfen hast du auch noch nicht gelernt!«
Polyphem heulte: »Komm her. Ich will dich umbringen, Niemand!«
»Du kannst Niemand nicht umbringen, du blöder Trottel«, höhnte sie. »Na, wo bin ich wohl?«
Polyphem rannte den Hang hinab hinter ihrer Stimme her.
Das mit dem Niemand klingt nicht gerade schlau, aber ich wusste von Annabeth, dass Odysseus sich so genannt hatte, als er vor Jahrhunderten Polyphem ausgetrickst und ihm mit einem langen glühenden Stock ins Auge gestochen hatte. Annabeth hatte vermutet, dass Polyphem auf diesen Namen noch immer allergisch reagieren würde, und sie hatte Recht. Weil er seinen alten Feind unbedingt finden wollte, vergaß er den Höhleneingang. Offenbar fiel ihm gar nicht auf, dass Annabeth eine weibliche Stimme hatte, während der erste Niemand ein Mann gewesen war. Schließlich hatte er ja auch Grover heiraten wollen, da konnte er die Sache mit männlich und weiblich nicht so ganz gerafft haben.
Ich hoffte nur, dass Annabeth am Leben bleiben und ihn so lange ablenken würde, dass ich Grover und Clarisse finden könnte.
Ich ließ mich von meinem Schaf fallen, streichelte Widgets Kopf und bat um Entschuldigung, dann suchte ich im Wohnzimmer, aber da fand ich keine Spur von Grover oder Clarisse. Ich zwängte mich durch die vielen Schafe und Ziegen nach hinten in die Höhle.
Obwohl ich von diesem Ort geträumt hatte, kam er mir vor wie ein Labyrinth. Ich lief durch Gänge voller Knochen, vorbei an Zimmern mit Schaffelldecken und lebensgroßen Zementschafen, in denen ich das Werk der Medusa erkannte. Es gab Sammlungen von Schafs-T-Shirts, riesige Tuben mit Lanolincreme, Wolljacken, Socken und Hüte mit Widderhörnern. Endlich fand ich die Spinnkammer, wo Grover in einer Ecke hockte und versuchte, mit einer stumpfen Schere Clarisse’ Fesseln zu zerschneiden.
»Das geht nicht«, sagte Clarisse. »Diese Schnur ist wie aus Eisen.«
»Nur noch ein paar Minuten!«
»Grover«, rief sie verzweifelt. »Du versuchst das schon seit Stunden!«
Und dann sahen sie mich.
»Percy?«, fragte Clarisse. »Du bist doch in die Luft geflogen!«
»Ja, und du mich auch. Und jetzt halt still, damit …«
»Perrrcy«, meckerte Grover und verpasste mir eine Ziegenumarmung. »Du hast mich gehört. Du bist gekommen.«
»Klar doch, Kumpel«, sagte ich. »Natürlich bin ich gekommen.«
»Wo ist Annabeth?«
»Draußen«, sagte ich. »Aber wir haben jetzt keine Zeit zum Reden. Clarisse, stillhalten!«
Ich drehte die Kappe von Springflut und zerschnitt ihre Fesseln. Sie stand mit steifen Bewegungen auf und rieb sich die Handgelenke. Einen Moment lang starrte sie mich wütend an, dann schaute sie zu Boden und murmelte: »Danke.«
»Gern geschehen«, sagte ich. »War sonst noch irgendwer mit in deinem Rettungsboot?«
Clarisse sah mich überrascht an. »Nein. Nur ich. Alle anderen auf der Birmingham … na ja, ich wusste ja nicht mal, dass ihr es geschafft habt.«
Ich starrte zu Boden und versuchte nicht daran zu denken, dass meine letzte Hoffnung, Tyson noch einmal lebend zu sehen, soeben zunichtegemacht worden war. »Gut. Also kommt jetzt. Wir müssen Annabeth …«
In der Höhle hallte eine Explosion wider, dann folgte ein Schrei, der mir klarmachte, dass wir möglicherweise zu spät kommen würden. Denn dieser Angstschrei stammte von Annabeth.
Niemand bekommt das Vlies
»Ich hab Niemand erwischt«, tönte Polyphem.
Wir krochen zum Höhleneingang und beobachteten den böse grinsenden Zyklopen, der nichts als Luft in der Hand hielt. Das Ungeheuer schüttelte seine Faust und eine Baseballmütze fiel zu Boden. Und da sahen wir Annabeth, die kopfunter an ihren Beinen in Polyphems Faust hing.
»Ha«, sagte der Zyklop. »Fieses unsichtbares Mädchen. Hab schon eine tapfere Frau. Also wirst du mit Mango-Chutney gegrillt.«
Annabeth zappelte, schien aber nicht ganz bei sich zu sein. Sie hatte eine scheußliche Wunde auf der Stirn. Ihre Augen waren glasig.
»Ich mach ihm Beine«, flüsterte ich Clarisse zu. »Unser Schiff liegt auf der anderen Seite der Insel. Du und Grover …«
»Nichts da«, sagten beide wie aus einem Munde. Clarisse hatte sich mit einem überaus seltenen Widderhornspeer aus der Zyklopenhöhle bewaffnet. Grover hatte den Hüftknochen eines Schafs gefunden, er schien nicht gerade glücklich darüber, hielt ihn aber wie eine Keule und war zum Angriff bereit.
»Wir schnappen ihn uns gemeinsam«, knurrte Clarisse.
»Genau«, sagte Grover. Dann blinzelte er und schien es nicht fassen zu können, dass er mit Clarisse einer Meinung war.
»Alles klar«, sagte ich. »Angriffsplan Mazedonien.«
Sie nickten. Wir hatten im Camp Half-Blood dasselbe Training absolviert. Sie wussten, wovon ich redete. Sie sollten sich von den Seiten her anschleichen und den Zyklopen von den Flanken angreifen, während ich von vorn seine Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Vermutlich bedeutete das, dass wir alle sterben würden, nicht nur ich, aber ich war doch dankbar für die Hilfe.
Ich schnappte mir mein Schwert und schrie: »He, du Hässlicher!«
Der Riese wirbelte zu mir herum. »Noch einer? Wer bist du?«
»Lass meine Freundin runter. Wer dich hier beleidigt hat, das war ich.«
»Du bist Niemand?«
»Genau, du stinkender Rotzeimer!« Das klang nicht ganz so schmissig wie Annabeths Beschimpfungen, aber mir fiel nichts Besseres ein. »Ich bin Niemand und ich bin stolz darauf. Und jetzt lass sie runter und komm her. Ich will dir endlich das Auge richtig ausstechen.«
»UAAAAR«, brüllte er.
Die gute Nachricht: Er ließ Annabeth los. Die schlechte: Er ließ sie mit dem Kopf zuerst auf die Felsen fallen und da blieb sie bewegungslos wie eine Stoffpuppe liegen.
Die zweite schlechte Nachricht: Polyphem kam auf mich zugebrettert, tausend stinkende Pfund Zyklop, gegen die ich mit einem sehr kleinen Schwert antreten musste.
»Für Pan!« Grover griff von rechts her an. Er schleuderte seinen Schafsknochen, aber der prallte von der Stirn des Monstrums ab, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten. Clarisse kam von links gerannt und ließ ihren Speer gerade im richtigen Moment zu Boden fallen, so dass der Zyklop hineintrat. Er heulte vor Schmerz. Clarisse wich aus, um nicht zertrampelt zu werden, aber der Zyklop zog sich den Speer wie einen großen Splitter aus dem Fuß und kam weiter auf mich zu.
Ich schwenkte Springflut.
Das Ungeheuer streckte die Hand nach mir aus. Ich rollte mich zur Seite und stach ihm in die Hüfte.
Ich hoffte, dass es sich auflösen würde. Manchmal passierte das beim ersten Streich mit Springflut. Aber dieses Monstrum war zu groß und zu mächtig.
»Hol Annabeth«, schrie ich Grover zu.
Er stürzte zu ihr, schnappte sich ihre Tarnkappe und hob sie hoch, während Clarisse und ich versuchten, Polyphem abzulenken.
Ich muss zugeben, Clarisse hatte Mut. Immer wieder ging sie auf den Zyklopen los. Er stampfte umher, trat nach ihr, griff nach ihr, aber sie war zu schnell, und immer, wenn sie angriff, sprang ich hinzu und stach das Monstrum in einen Zeh oder den Knöchel oder die Hand.
Aber so konnten wir nicht ewig weitermachen. Irgendwann würden wir erschöpft sein oder das Ungeheuer würde einfach mit einem Schlag Glück haben. Einer würde reichen, um uns umzubringen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Grover Annabeth über die Seilbrücke trug. Das hätte ich ihm nicht geraten, schließlich warteten auf der anderen Seite die menschenfressenden Schafe, aber dann kam es mir doch besser vor als unsere Seite des Abgrunds, und das brachte mich auf eine Idee.
»Zurück!«, rief ich Clarisse zu.
Sie rollte sich zur Seite und die Faust des Zyklopen knallte in einen Olivenbaum neben ihr.
Wir rannten auf die Brücke zu, dicht gefolgt von Polyphem. Er blutete und hinkte wegen seiner vielen Wunden, aber damit hatten wir ihn nur langsamer und richtig wütend gemacht.