»Du reist mit Kriegern aus Knochen auf dem Schiff aus Eisen,
was du dann findest, wird den Weg dir weisen,
doch du verzweifelst an deinem Leben, eingesargt in Stein
und ohne Freunde hilflos, kehrst du heim allein.«
»Oh«, murmelte Grover.
»Nein«, sagte ich. »Nein … Moment mal. Ich hab’s.«
Ich wühlte in meinen Taschen nach Geld, fand aber nur eine goldene Drachme. »Hat hier irgendwer echtes Geld?«
Annabeth und Grover schüttelten düster die Köpfe. Clarisse zog einen feuchten Südstaatendollar aus der Tasche und seufzte.
»Echtes Geld?«, fragte Tyson zögernd. »Also … grünes Papier?«
Ich sah ihn an. »Ja, genau.«
»Wie das in den Seesäcken?«
»Ja, aber die haben wir schon vor Tagen …«
Ich verstummte, als Tyson in seiner Satteltasche herumwühlte und den Geldbeutel hervorzog, den Hermes in der Nacht, in der wir losgezogen waren, zu unseren Vorräten gelegt hatte.
»Tyson!«, sagte ich. »Wie hast du …«
»Dachte, das ist Futter für Regenbogen«, sagte er. »Das schwamm im Wasser, aber dann war da nur Papier drin. Tut mir leid.«
Er reichte mir das Geld. Fünfer und Zehner – mindestens vierhundert Dollar.
Ich stürzte zum Bordstein und schnappte mir ein Taxi, das gerade eine Familie von Kreuzfahrtpassagieren aussteigen ließ. »Clarisse«, schrie ich. »Komm schon. Du fährst zum Flughafen. Annabeth, gib ihr das Vlies.«
Ich weiß nicht genau, welche von beiden verblüffter aussah, als ich Annabeth die Vliesjacke wegnahm, das Geld in die Tasche steckte und sie Clarisse in die Arme legte.
Clarisse sagte: »Du willst mir …«
»Es ist deine Aufgabe«, sagte ich. »Und unser Geld reicht nur für einen Flug. Außerdem kann ich nicht durch die Luft reisen. Zeus würde mich in eine Million Fetzen sprengen. Das hat die Weissagung gemeint: Ohne Freunde hättest du versagt – das bedeutet, dass du unsere Hilfe brauchst, aber dann musst du allein nach Hause fliegen. Du musst das Vlies sicher hinbringen.«
Ich konnte sehen, wie es in ihr arbeitete – zuerst war sie misstrauisch, sie fragte sich, was das wohl für ein Trick sein könnte, aber dann schien sie zu beschließen, dass ich es ehrlich meinte.
Sie sprang ins Taxi. »Ihr könnt euch auf mich verlassen. Ich werde nicht versagen.«
»Das wäre gut.«
Das Taxi verschwand in einer Wolke aus Auspuffgasen. Das Vlies war unterwegs.
»Percy«, sagte Annabeth. »Das war wirklich …«
»Großzügig?«, schlug Grover vor.
»Wahnsinnig«, korrigierte Annabeth. »Du setzt das Leben von allen im Lager darauf, dass Clarisse das Vlies noch heute Abend sicher hinbringt?«
»Es ist ihr Auftrag«, sagte ich. »Sie hat eine Chance verdient.«
»Percy ist lieb«, sagte Tyson.
»Percy ist zu lieb«, knurrte Annabeth, aber es kam mir so vor, als ob sie vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, doch ein bisschen beeindruckt war. Ich hatte sie jedenfalls überrascht. Und das war keine leichte Übung.
»Na los«, sagte ich zu den anderen. »Jetzt müssen wir überlegen, wie wir nach Hause kommen.«
Ich drehte mich um und sah eine Schwertspitze, die sich auf meine Kehle richtete.
»Hallo, Vetter«, sagte Luke. »Willkommen zurück in den Vereinigten Staaten!«
Seine Bären-Schläger nahmen uns in die Mitte. Der eine packte Annabeth und Grover am Schlafittchen. Der andere versuchte sich Tyson zu schnappen, aber Tyson faltete ihn zu einem Paket zusammen und brüllte Luke an.
»Percy«, sagte Luke gelassen. »Sag deinem Riesen, er soll sich ruhig verhalten, sonst lass ich Oreios die Köpfe der beiden anderen gegeneinanderschlagen.«
Oreios grinste und hob Annabeth und Grover vom Boden hoch. Die beiden strampelten und schrien.
»Was willst du, Luke?«, knurrte ich.
Er lächelte und dabei bewegte sich die Narbe auf seiner Wange.
Er zeigte auf das Ende der Landungsbrücke und ich sah etwas, das eigentlich ungeheuer auffällig war. Das größte Schiff im Hafen war die Prinzessin Andromeda.
»Aber Percy«, sagte Luke. »Ich will euch natürlich meine Gastfreundschaft anbieten.«
Die Bärenzwillinge trugen uns an Bord der Prinzessin Andromeda und ließen uns vor einem Swimming-Pool mit glitzernden Fontänen aufs Achterdeck fallen. Ein Dutzend von Lukes Ungeheuern – Schlangenmenschen, Laistrygonen, Demigottheiten in Schlachtenrüstung – hatten sich versammelt, um zuzusehen, wie uns »Gastfreundschaft« erwiesen wurde.
»Und nun … das Vlies«, sagte Luke seelenruhig. »Wo ist es?«
Er musterte uns, tippte mit der Schwertspitze auf mein Hemd und Grovers Jeans.
»He«, schrie Grover. »Da drunter ist echtes Fell!«
»Tut mir leid, alter Freund«, sagte Luke lächelnd. »Gib mir einfach das Vlies und dann lasse ich dich zu deiner, äh, kleinen Naturexpedition zurückkehren.«
»Bääh«, protestierte Grover. »Komm mir nicht mit ›alter Freund‹.«
»Vielleicht hast du mich nicht richtig verstanden.« Lukes Stimme war bedrohlich ruhig. »Wo – ist – das – Vlies?«
»Hier nicht«, sagte ich. Vermutlich hätte ich die Klappe halten sollen, aber ich fand es zu schön, ihm die Wahrheit an den Kopf zu knallen. »Wir haben es schon mal vorausgeschickt. Dein Pech.«
Luke kniff die Augen zusammen. »Du lügst. Du hast doch nie im Leben …« Er lief rot an, als ihm eine entsetzliche Möglichkeit aufging. »Clarisse?«
Ich nickte.
»Du hast ihr vertraut … du hast ihr …«
»Genau.«
»Agrios!«
Der Bärenriese zuckte zusammen. »J-ja?«
»Geh nach unten und mach mein Ross bereit. Bring es an Bord. Ich muss sofort zum Flughafen von Miami fliegen.«
»Aber Boss –«
»Mach schon!«, schrie Luke. »Oder ich verfüttere dich an den Drachen!«
Der Bärenmann schluckte und polterte die Treppe hinunter. Luke lief vor dem Swimming-Pool hin und her, fluchte auf Altgriechisch und packte sein Schwert so fest, dass seine Knöchel weiß wurden.
Lukes restliche Mannschaft sah ziemlich beunruhigt aus. Vielleicht hatten sie ihren Boss noch nie dermaßen außer sich erlebt.
Ich überlegte. Wenn ich Lukes Zorn benutzen, wenn ich ihn zum Reden bringen könnte, damit alle hörten, wie verrückt seine Pläne waren …
Ich sah zum Swimming-Pool; die Fontänen ließen Nebel in die Luft aufsteigen und bildeten im Sonnenuntergang einen Regenbogen. Und plötzlich kam mir eine Idee.
»Du hast die ganze Zeit mit uns gespielt«, sagte ich. »Wir sollten für dich das Vlies holen, damit du dir die Mühe sparen konntest.«
Luke runzelte die Stirn. »Natürlich, du Blödmann. Und ihr habt alles versaut!«
»Verräter.« Ich fischte meine letzte goldene Drachme aus der Tasche und warf damit nach Luke. Wie ich es erwartet hatte, wich er mühelos aus. Die Münze segelte in die Gischt aus regenbogenbuntem Wasser.
Ich hoffte, dass mein Gebet auch stumm erhört würde. Ich dachte: O Göttin, nimm meine Gabe an.
»Du hast uns allesamt ausgetrickst«, schrie ich Luke an. »Sogar DIONYSOS im CAMP HALF-BLOOD!«
Hinter Luke fing die Fontäne an zu schimmern, aber ich musste die Aufmerksamkeit auf mich lenken und deshalb drehte ich die Kappe von Springflut.
Luke feixte nur. »Das ist nicht der richtige Moment für Heldentaten, Percy. Wirf dein blödes kleines Schwert hin, sonst lass ich dich eher früher umbringen als später.«
»Wer hat Thalias Baum vergiftet, Luke?«
»Ich natürlich«, fauchte er. »Das hab ich dir doch schon gesagt. Ich habe altes Pythongift benutzt, geradewegs aus den Tiefen des Tartarus.«
»Chiron hatte nichts damit zu tun?«
»Ha! Du weißt doch, dass er dazu niemals fähig wäre. Dem alten Trottel fehlt doch der Mumm.«
»Das nennst du Mumm? Deine Freunde verraten? Das ganze Camp in Gefahr bringen?«
Luke hob sein Schwert. »Du hast ja nicht mal die Hälfte kapiert. Ich wollte dir das Vlies überlassen … wenn ich es nicht mehr brauche.«