Ich ließ den Scanner fallen.
Au, sagte George.
Wirklich, Percy, tadelte Martha. Würdest du gern in einem Pferdestall auf den Boden fallen gelassen werden?
»Oh … ’tschuldigung.« Ich hob den Scanner auf.
Ich wollte die Schlangen nicht anfassen, aber ich griff noch einmal zum Stift. Martha und George zappelten unter meinen Fingern und bildeten eine Art Bleistiftgriff, wie ich ihn in der zweiten Klasse auf der Sonderschule gehabt hatte.
Hast du mir eine Ratte mitgebracht?, fragte George.
»Nein«, sagte ich. »Äh, wir haben keine gefunden.«
Und auch kein Meerschweinchen?
George!, schimpfte Martha. Mach dich nicht über den Knaben lustig!
Ich bestätigte den Empfang der Sendung und gab Hermes den Scanner zurück.
Im Gegenzug reichte er mir einen meergrünen Briefumschlag.
Meine Finger zitterten. Noch ehe ich ihn öffnete, wusste ich, dass er von meinem Vater stammte. Ich konnte seine Macht in dem kühlen grünen Papier spüren, so als wäre der Umschlag aus einer Ozeanwelle gefaltet worden.
»Viel Glück morgen«, sagte Hermes. »Gutes Gespann hast du hier, aber wenn du verzeihst, dann werde ich zur Hermes-Hütte halten.«
Und sei nicht zu enttäuscht, wenn du das gelesen hast, Lieber, sagte Martha zu mir. Er will wirklich nur dein Bestes.
»Wie meinst du das?«, fragte ich.
Beachte sie nicht, sagte George. Und denk nächstes Mal dran, die Schlangen arbeiten für Trinkgeld.
»Das reicht, ihr beiden«, sagte Hermes. »Auf Wiedersehen, Percy … man sieht sich.«
Kleine weiße Flügel sprossen aus seinem Helm. Er fing an zu glühen und ich wusste genug über Götter, um meine Augen abzuwenden, ehe er seine wahre göttliche Gestalt zeigte. Mit einem strahlenden weißen Aufleuchten war er verschwunden und ich war mit den Pferden allein.
Ich starrte den grünen Umschlag in meinen Händen an. Er war in einer kräftigen, aber eleganten Handschrift beschrieben, die ich schon einmal gesehen hatte, auf einem Paket, das Poseidon mir im vergangenen Sommer geschickt hatte.
Percy Jackson
c/o Camp Half-Blood
Farm Road 3.141
Long Island, New York 11954
Ein echter Brief von meinem Vater. Vielleicht wollte er mir sagen, dass ich bei der Suche nach dem Vlies gute Arbeit geleistet hatte. Er würde die Sache mit Tyson erklären und um Entschuldigung bitten, weil er nicht früher mit mir gesprochen hatte. Es gab so viel, was ich in diesem Brief zu lesen wünschte.
Ich öffnete den Umschlag und faltete den Bogen auseinander.
Zwei schlichte Wörter waren mitten auf die Seite gesetzt:
SEI GEFASST.
Am nächsten Morgen redeten alle über das Wagenrennen, schauten aber auch immer wieder nervös gen Himmel, als ob sie einen Schwarm von Stymphalischen Vögeln fürchteten. Aber die ließen sich nicht sehen. Es war ein wunderschöner sonniger Sommertag mit blauem Himmel. Das Camp sah jetzt wieder so aus, wie es aussehen sollte – die Wiesen waren von üppigem Grün, die weißen Säulen der griechischen Gebäude leuchteten, Dryaden spielten glücklich im Wald.
Und ich fühlte mich elend. Ich hatte die ganze Nacht wach gelegen und mir über Poseidons Brief den Kopf zerbrochen.
Sei gefasst.
Ich meine … da macht er sich die Mühe, mir einen Brief zu schicken, und dann schreibt er nur zwei Wörter?
Martha, die Schlange, hatte gesagt, ich dürfte nicht enttäuscht sein.
Vielleicht hatte Poseidon gute Gründe dafür, sich so vage auszudrücken. Vielleicht wusste er nicht genau, wovor er mich warnte, aber er spürte, dass etwas passieren würde – etwas, das mich einfach umwerfen könnte, wenn ich nicht darauf vorbereitet wäre.
Es war schwer, aber ich versuchte mich auf das Rennen zu konzentrieren.
Als Annabeth und ich auf die Rennstrecke fuhren, musste ich Tyson einfach dafür bewundern, was er aus dem Athene-Wagen gemacht hatte. Der Wagen funkelte in seinem Bronzeschutz. Die Räder waren mit magischer Federung versehen worden, deshalb glitten wir fast unmerklich dahin. Die Pferde waren so perfekt angeschirrt, dass das Gespann sich bei der leisesten Bewegung der Zügel bewegte.
Tyson hatte außerdem zwei Wurfspeere geschmiedet, jeden mit drei Knöpfen am Schaft. Der erste Knopf ließ den Speer explodieren und setzte einen Draht frei, der sich um die Räder des Gegners wickeln und sie zerfetzen würde. Der zweite Knopf ließ einen stumpfen (aber immer noch sehr schmerzhaften) Speerkopf aus Bronze ausfahren, der den Fahrer vom Wagen werfen sollte. Der dritte Knopf brachte einen Haken zum Vorschein, der einen gegnerischen Wagen festhalten oder wegstoßen konnte.
Ich hatte das Gefühl, dass wir ziemlich gut im Rennen lagen, aber Tyson mahnte mich trotzdem zur Vorsicht. Auch die anderen Wagenlenker hatten jede Menge Tricks im Ärmel.
»Hier«, sagte Tyson unmittelbar vor Rennbeginn.
Er reichte mir eine Armbanduhr. Sie war nichts Besonderes, sie hatte ein weiß-silbernes Zifferblatt und ein schwarzes Lederband – doch sowie ich sie erblickte, wurde mir klar, dass Tyson seit Anfang des Sommers daran herumgebastelt hatte.
Ich trage normalerweise keine Uhr. Wen interessiert es schon, wie spät es ist? Aber das konnte ich Tyson nicht sagen.
»Danke, Mann.« Ich band die Uhr um und fand sie überraschend leicht und bequem. Ich merkte kaum, dass ich sie trug.
»Nicht rechtzeitig vor der Reise fertig geworden«, murmelte Tyson. »Tut mir wirklich sehr, sehr leid.«
»Ach, Mann. Ist doch nicht so wichtig.«
»Wenn du beim Rennen Schutz brauchst«, riet er, »dann drück auf den Knopf.«
»Ja … okay.« Ich begriff zwar nicht, wieso es helfen sollte, die Zeit zu stoppen, aber ich fand es rührend, dass Tyson so besorgt war. Ich versprach ihm, daran zu denken. »Und äh, hm, Tyson …«
Er sah mich an.
»Ich wollte nur sagen … na ja …« Ich wollte ihn um Entschuldigung dafür bitten, dass ich ihn vor der Reise verleugnet hatte, dass ich allen gesagt hatte, er sei nicht mein richtiger Bruder. Es war nicht leicht, die richtigen Worte zu finden.
»Ich weiß, was du sagen willst«, erwiderte Tyson und sah beschämt aus. »Ich bin Poseidon trotz allem wichtig.«
»Äh, na ja …«
»Er hat dich geschickt, um mir zu helfen. Genau das, worum ich gebeten hatte.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Du hast Poseidon um … mich gebeten?«
»Um einen Freund«, sagte Tyson und fingerte an seinem Hemd herum. »Junge Zyklopen wachsen allein auf der Straße auf. Lernen, aus Schrott irgendwas Brauchbares zu machen. Lernen zu überleben.«
»Aber das ist doch grausam!«
Er schüttelte ernst den Kopf. »Sorgt dafür, dass wir uns über alles Gute freuen … und nicht gierig und fett und gemein werden wie Polyphem. Aber ich hatte Angst. Die Ungeheuer haben mich so gejagt, haben mich zerkratzt …«
»Die Narben auf deinem Rücken?«
Ihm traten Tränen in die Augen. »Sphinx auf der 72. Straße … ganz groß und fies. Ich hab zu Daddy um Hilfe gebetet. Und dann haben mich die Leute vom Meriwether gefunden. Und ich hab dich kennengelernt. Das Beste, was mir je passiert ist. Tut mir leid, dass ich gesagt habe, Poseidon sei gemein. Er hat mir einen Bruder geschickt.«
Ich starrte die Uhr an, die Tyson für mich gemacht hatte.
»Percy!«, rief Annabeth. »Komm schon!«
Chiron stand an der Startlinie und würde gleich ins Muschelhorn stoßen.
»Tyson«, sagte ich.
»Geh jetzt«, sagte Tyson. »Ihr werdet gewinnen.«
»Ich … alles klar, okay, Großer. Wir werden für dich gewinnen.« Ich stieg auf den Wagen und machte mich bereit und schon gab Chiron das Startsignal.