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Annabeth streckte die Hand aus. »Komm schon, Algenhirn. Zeit zum Abendessen.«

Wir gingen zusammen zurück zum Esspavillon. Nur wir drei, genau wie in alten Zeiten.

In dieser Nacht wütete ein Sturm, aber er machte einen Bogen um Camp Half-Blood, wie Stürme das meistens eben so machen. Am Horizont loderten Blitze auf, die Brecher krachten gegen den Strand, aber in unserem Tal fiel kein Regentropfen. Wir wurden jetzt durch das Vlies wieder beschützt und waren innerhalb unserer magischen Grenzen sicher.

Meine Träume waren trotzdem unruhig. Ich hörte, wie Kronos mich aus den Tiefen des Tartarus verspottete: Polyphem sitzt blind in seiner Höhle, junger Held, und glaubt, einen großen Sieg errungen zu haben. Lebst du in einem geringeren Irrtum? Das kalte Lachen des Titanen erfüllte die Dunkelheit.

Dann änderte mein Traum sich. Ich folgte Tyson auf den Meeresgrund, an den Hof des Poseidon. Es war eine strahlende Halle voll blauem Licht, der Boden war mit Perlen gepflastert. Und dort, auf einem Thron aus Korallen, saß mein Vater, gekleidet wie ein schlichter Fischer, in Khakishorts und einem von der Sonne ausgebleichten T-Shirt. Ich schaute in sein braunes, wettergegerbtes Gesicht und seine tiefgrünen Augen und er sagte zwei Worte: SEI GEFASST.

Ich fuhr aus dem Schlaf hoch.

Jemand hämmerte an die Tür. Grover kam hereingestürzt, ohne auf meine Aufforderung zu warten.

»Percy«, stammelte er. »Annabeth … auf dem Hügel … sie …«

Sein Blick verriet mir, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Annabeth hatte in dieser Nacht Wachdienst auf dem Hügel und beschützte das Vlies. Wenn etwas passiert war …

Ich schlug meine Decke zurück und mein Blut erstarrte in meinen Adern zu Eis. Ich warf ein paar Kleidungsstücke über, während Grover versuchte, einen vollständigen Satz zu bilden, aber er war zu ratlos, zu sehr außer Atem. »Sie liegt da … sie liegt einfach da …«

Ich rannte aus der Hütte und über den großen Platz, dicht gefolgt von Grover. Es fing gerade erst an zu dämmern, aber das ganze Camp schien schon auf den Beinen zu sein. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Etwas Ungeheuerliches war geschehen. Die Ersten rannten schon auf den Hügel zu – Satyrn und Nymphen und Demigottheiten, eine wilde Mischung aus Rüstungen und Schlafanzügen.

Ich hörte das Klappern von Hufen und Chiron kam mit düsterer Miene hinter uns hergaloppiert.

»Stimmt es?«, fragte er Grover.

Grover konnte nur verwirrt nicken.

Ich wollte fragen, was denn los sei, aber Chiron packte mich am Arm und hob mich mühelos auf seinen Rücken. Zusammen donnerten wir den Half-Blood Hill hoch, auf dem sich schon eine kleine Menge versammelt hatte.

Ich hatte erwartet, dass das Vlies aus der Fichte verschwunden sein würde, aber es war noch da und funkelte im ersten Morgenlicht. Der Sturm hatte sich gelegt und der Himmel war blutrot.

»Verflucht sei der Titanenherr«, sagte Chiron. »Er hat uns abermals übertölpelt und sich wieder eine Möglichkeit geschaffen, die Weissagung zu beeinflussen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.

»Das Vlies«, sagte er. »Das Vlies hat zu gute Arbeit geleistet.«

Wir galoppierten weiter und alle anderen wichen uns aus. Vor dem Baum lag ein bewusstloses Mädchen. Ein anderes Mädchen in griechischer Rüstung kniete neben ihr.

Blut rauschte in meinen Ohren. Ich konnte nicht klar denken. Annabeth war angegriffen worden? Aber warum hing dann das Vlies noch hier?

Der Baum sah absolut in Ordnung aus, heil und gesund, durchtränkt mit der Kraft des Goldenen Vlieses.

»Es hat den Baum geheilt«, sagte Chiron mit brüchiger Stimme. »Und es hat nicht nur das Gift herausgeholt.«

Und dann sah ich, dass nicht Annabeth auf dem Boden lag. Sie war das Mädchen in der Rüstung, das neben der Bewusstlosen kniete. Als Annabeth uns erblickte, erhob sie sich und kam auf Chiron zugerannt. »Es … sie … war einfach plötzlich da …«

Ihr liefen die Tränen übers Gesicht, aber ich begriff noch immer nicht. Ich war zu verdutzt, um irgendetwas zu durchschauen. Ich sprang von Chirons Rücken und lief auf das bewusstlose Mädchen zu. Chiron rief: »Percy, warte!«

Ich kniete neben ihr nieder. Sie war etwas älter als ich und hatte kurze schwarze Haare und Sommersprossen auf der Nase. Sie war gebaut wie eine Langstreckenläuferin, stark und geschmeidig, und ihre Kleidung lag irgendwo zwischen Punk und Goth – schwarzes T-Shirt, schwarze, zerfetzte Jeans und eine Lederjacke mit Buttons von Bands, deren Namen ich noch nie gehört hatte.

Sie war keine Campbewohnerin. Ich hatte sie in keiner der Hütten je gesehen. Aber trotzdem hatte ich das seltsame Gefühl, dass ich ihr nicht zum ersten Mal begegnete.

»Es stimmt«, sagte Grover und keuchte nach seinem Lauf den Hang hinauf. »Ich kann es nicht glauben …«

Niemand sonst näherte sich dem Mädchen.

Ich legte ihr die Hand auf die Stirn. Ihre Haut war kalt, aber trotzdem schienen meine Fingerspitzen zu brennen.

»Sie braucht Nektar und Ambrosia«, sagte ich. Sie war eindeutig ein Halbblut, ob sie nun im Camp wohnte oder nicht. Das sagte mir diese eine Berührung. Ich begriff nicht, warum alle anderen solche Angst zu haben schienen.

Ich nahm ihre Schultern, zog sie hoch und lehnte ihren Kopf an meine Brust.

»Na los«, rief ich den anderen zu. »Was ist denn in euch gefahren? Wir müssen sie ins Hauptgebäude bringen!«

Niemand bewegte sich, nicht einmal Chiron. Immer noch sahen alle total verdutzt aus.

Dann holte das Mädchen zitternd Atem. Sie hustete und schlug die Augen auf.

Ihre Augen waren verwirrend blau – elektrisch blau, wie die Süßigkeiten, die meine Mom mir immer bei besonderen Anlässen gab.

Sie starrte mich verwirrt an, zitternd und aus weit aufgerissenen Augen. »Wer …«

»Ich bin Percy«, sagte ich. »Du bist jetzt in Sicherheit.«

»Ganz seltsamer Traum …«

»Ist schon gut.«

»Sterben.«

»Nein«, versicherte ich ihr. »Jetzt ist alles gut. Wie heißt du?«

Und dann wusste ich es. Noch ehe sie es sagen konnte.

Ihre blauen Augen starrten mich an und ich wusste, was wirklich hinter der Suche nach dem Goldenen Vlies gesteckt hatte. Und hinter der Vergiftung des Baumes. Hinter allem. Kronos hatte all das inszeniert, um eine weitere Schachfigur ins Spiel zu bringen – eine weitere Möglichkeit, die Weissagung zu beeinflussen.

Sogar Chiron, Annabeth und Grover, die in diesem Moment doch hätten jubeln müssen, waren zu schockiert angesichts dessen, was dies für die Zukunft bedeutete. Und ich hielt ein Mädchen in meinen Armen, das entweder meine beste Freundin oder meine ärgste Feindin sein würde.

»Ich bin Thalia«, sagte das Mädchen. »Die Tochter des Zeus.«

Glossar

Agrios  Sohn der Polyphante, die jungfräulich leben wollte, von Aphrodite aber durch Zauber gezwungen wurde, sich in einen Bären zu verlieben. Aus dieser Beziehung gingen die Söhne Agrios und Oreios hervor.

Aigis  Brustschild der Athene, verziert mit Orakelschlangen, die göttliche Macht ausstrahlen. Selbst der Obergott Zeus ist der Macht der Aigis gegenüber hilflos.

Ambrosia und Nektar  göttliche Speise bzw. göttlicher Trunk, die die übernatürlichen Kräfte der Gottheiten stärkten, für gewöhnliche Menschen aber tödlich wirkten.

Anaklysmos  zauberkräftiges Schwert des Poseidon, über das in den antiken Texten jedoch keine Einzelheiten berichtet werden.

Äneas  einer der berühmtesten trojanischen Helden, Sohn der Aphrodite und des Anchises, der Sage nach Stammvater Roms, wohin er aus dem brennenden Troja floh. Seine Abenteuer wurden berühmt gemacht durch die »Äneis« des römischen Dichters Vergil.

Aphrodite  Göttin der Liebe. Sie gehört zu den zwölf großen olympischen Gottheiten und spendet Schönheit und Fruchtbarkeit; nach Homer ist sie die Tochter des Zeus und der Dione, nach Hesiod aber die »Schaumgeborene« – danach entstieg sie in vollkommener Gestalt dem Meer: Kronos, der jüngste der Titanen, hatte seinem Vater Uranos die Geschlechtsteile abgeschnitten und ins Meer geworfen, Schaum sammelte sich und verwandelte sich in eine Frau. Mit Hephaistos verheiratet, war sie ihm keine treue Ehefrau und hat ihren Ehemann nicht nur mit Göttern, sondern auch mit Sterblichen hintergangen, so wurde auch Äneas gezeugt, der Gründer Roms. Aphrodite half Männern, die in sterbliche Frauen verliebt waren, wie zum Beispiel Paris und Helena.