Einen Moment lang passierte gar nichts.
Dann wurde der Asphalt dunkel, wo ihn die Münze berührt hatte. Er zerschmolz zu einer rechteckigen Pfütze von der Größe einer Parknische – und blubberte rot und flüssig wie Blut. Aus dem Geblubber brach ein Auto hervor.
Es war zwar ein Taxi, aber es war nicht gelb wie die üblichen New Yorker Taxis. Es war rauchgrau. Ich meine, es sah aus wie aus Rauch gewoben, als könnte man einfach hindurchgehen. Auf der Tür stand etwas – so ähnlich wie GAUER SSWECHTREN –, aber wegen meiner Legasthenie konnte ich nicht mehr entziffern.
Das Fenster auf der Beifahrerseite wurde geöffnet. Eine alte Frau schaute heraus; ein grauer Schopf fiel ihr in die Augen und sie nuschelte auf seltsame Weise vor sich hin, als ob sie gerade ein Beruhigungsmittel gespritzt bekommen hätte. »Mitfann? Mitfann?«
»Drei zum Camp Half-Blood«, sagte Annabeth. Sie öffnete die hintere Tür des Taxis und winkte mir zu, als ob das ganz normal wäre.
»Ah«, kreischte die alte Frau. »Nicht so jemand!«
Sie zeigte mit einem knochigen Finger auf Tyson.
Was war das denn hier? Der internationale Macht-die-großen-hässlichen-Kinder-fertig-Tag?
»Wir bezahlen extra«, versprach Annabeth. »Noch drei Drachmen, wenn wir am Ziel sind.«
»Rein mit euch!«, kreischte die Frau.
Widerwillig stieg ich ein. Tyson quetschte sich in die Mitte. Annabeth kroch als Letzte dazu.
Das Taxi war innen ebenfalls rauchgrau, fühlte sich aber durchaus solide an. Der Sitz war rissig und uneben – wie in den meisten Taxis. Es gab keine Plexiglasscheibe, die uns von der alten Fahrerin trennte … aber Moment. Es war nicht nur eine. Drei alte Damen hatten sich auf die Vorderbank gezwängt, alle drei mit strähnigen Haaren, die ihnen in die Augen fielen, knochigen Händen und kohlschwarzen Kleidern aus Sackleinen.
Die Fahrerin sagte: »Long Island! Sonderpreis, außerhalb des U-Bahn-Netzes. Ha!«
Sie trat das Gaspedal bis zum Boden durch und mein Kopf knallte gegen die Nackenstütze. Eine Tonbandstimme ertönte: »Hallo, hier spricht Ganymed, Mundschenk des Zeus, und wenn ich für den Herrn der Himmel Wein kaufen fahre, schnalle ich mich immer an.«
Ich schaute nach unten und entdeckte an Stelle eines Sicherheitsgurtes eine lange schwarze Kette. Ich beschloss, dass ich dafür nicht verzweifelt genug war … noch nicht.
Das Taxi jagte um die Ecke des West Broadway und die graue Dame in der Mitte schrie: »Aufpassen! Links jetzt!«
»Wenn du mir das Auge geben würdest, Sturm, dann könnte ich das selber sehen!«, pöbelte die Fahrerin.
Moment mal. Ihr das Auge geben?
Ich hatte keine Zeit, Fragen zu stellen, denn die Fahrerin riss das Steuer herum, um einem uns entgegenkommenden Lieferwagen auszuweichen, fuhr mit einem gebisserschütternden WUMM über den Bordstein und fegte zum nächsten Block weiter.
»Wespe!«, sagte die dritte Dame zur Fahrerin. »Gib die Münze vom Mädchen! Ich will reinbeißen!«
»Du hast schon letztes Mal reingebissen, Zorn!«, sagte die Fahrerin, die offenbar Wespe hieß. »Jetzt bin ich an der Reihe!«
»Bist du nicht!«, schrie die, die Zorn hieß.
Die Mittlere, Sturm, brüllte: »Rot!«
»Bremsen!«, schrie Zorn.
Aber Wespe trat aufs Gaspedal und fuhr auf den Bürgersteig, schlingerte um die nächste Ecke und stieß einen Zeitungskasten um. Mein Magen ging irgendwo in der Broome Street flöten.
»Verzeihung«, sagte ich. »Aber … können Sie sehen?«
»Nein!«, schrie Wespe hinter dem Lenkrad.
»Nein!«, schrie Sturm in der Mitte.
»Natürlich!«, schrie Zorn am Seitenfenster.
Ich schaute Annabeth an. »Sind sie blind?«
»Nicht ganz«, sagte Annabeth. »Sie haben ein Auge.«
»Ein Auge?«
»Ja.«
»Jede?«
»Nein. Gemeinsam.«
Tyson neben mir stöhnte. »Geht mir nicht gut.«
»Oh, Mann«, sagte ich, denn ich hatte schon auf Schulausflügen erlebt, dass es Tyson beim Autofahren leicht schlecht wurde, und wenn es so weit war, wollte ich lieber zwanzig Meter weg sein. »Reiß dich zusammen, Großer. Gibt’s einen Müllsack oder so was?«
Die drei grauen Damen waren zu sehr mit ihrem Streit beschäftigt, um auf mich zu achten. Ich schaute zu Annabeth hinüber, die sich festklammerte und um ihr Leben zu fürchten schien, und sah sie mit einem Was-hast-du-mir-da-angetan-Blick an.
»Hey«, sagte sie. »Das Taxi der Grauen Schwestern, genannt auch die Graien, ist die schnellste Möglichkeit, ins Camp zu gelangen.«
»Warum hast du es dann nicht schon in Virginia genommen?«
»Liegt nicht in ihrem Einsatzgebiet«, sagte sie, als sei das eine Selbstverständlichkeit. »Sie fahren nur in New York und den Randbezirken.«
»Hatten schon berühmte Leute hier im Wagen!«, rief Zorn. »Jason! Könnt ihr euch an den erinnern?«
»Erzähl mir bloß nichts von dem!«, heulte Wespe. »Und wir hatten damals noch gar kein Taxi, du alte Fledermaus. Das ist doch dreitausend Jahre her!«
»Gib mir den Zahn!« Zorn versuchte, Wespe in den Mund zu fassen, aber Wespe schlug ihre Hand weg.
»Nur wenn Sturm mir das Auge gibt!«
»Nein!«, kreischte Sturm. »Du hast es gestern gehabt!«
»Aber ich fahre, du alte Kuh!«
»Ausrede! Abbiegen! Hier hättest du abbiegen müssen!«
Wespe riss das Steuer herum und fegte in die Delancey Street, wobei ich zwischen Tyson und der Tür eingequetscht wurde. Sie trat aufs Gas und wir schossen mit hundertachtzig auf die Williamsburg-Brücke.
Die drei Schwestern kämpften jetzt wirklich miteinander. Sie schlugen aufeinander ein, Zorn versuchte Wespes Gesicht zu erwischen und Wespe das von Sturm. Mit wehenden Haaren und offenen Mündern schrien sie einander an. Ich sah, dass keine der Schwestern Zähne hatte, außer Wespe, die einen bemoosten gelben Eckzahn aufweisen konnte. Sie hatten auch keine Augen, nur geschlossene, eingesunkene Lider, abgesehen von Zorn und ihrem einen blutunterlaufenen grünen Auge, das hungrig um sich starrte, als ob es von allem, was es da sah, nicht genug bekommen könnte.
Schließlich gelang es Zorn, die ja etwas sah, ihrer Schwester Wespe den Zahn aus dem Mund zu reißen. Das machte Wespe so wütend, dass sie ganz an den Rand der Williamsburg-Brücke fuhr und schrie: »Hurückgebm, hurückgebm!«
Tyson stöhnte und presste sich die Hände auf den Bauch.
»Übrigens, falls das irgendwen hier interessiert«, sagte ich, »das überleben wir nicht.«
»Keine Sorge«, sagte Annabeth, die sich ziemlich besorgt anhörte. »Die Grauen Schwestern wissen, was sie tun. Sie sind wirklich sehr weise.«
Das sagte zwar immerhin die Tochter der Athene, aber ich war trotzdem nicht beruhigt. Wir schlingerten mehr als dreißig Meter hoch am Rand einer Brücke über dem East River.
»Sehr weise!« Zorn grinste in den Rückspiegel und zeigte den frisch erworbenen Zahn. »Wir kennen uns aus!«
»In jeder Straße in Manhattan!«, protzte Wespe und schlug noch immer auf ihre Schwester ein. »Und in der Hauptstadt von Nepal!«
»An jedem gewünschten Ort«, fügte Sturm hinzu. Sofort schlugen ihre Schwestern von beiden Seiten auf sie ein und kreischten: »Klappe halten! Klappe halten! Er hat doch noch nicht mal gefragt!«
»Was?«, fragte ich. »Was für ein Ort? Ich suche keinen …«
»Nichts!«, sagte Sturm. »Du hast schon Recht, Knabe! Nichts los!«
»Sag schon!«
»Nein!«, schrien sie alle.
»Als wir es zuletzt verraten haben, war das schrecklich!«, sagte Sturm.
»Auge in den See geworfen!«, sagte Zorn zustimmend.
»Jahre danach gesucht!«, stöhnte Wespe. »Und wo wir gerade davon reden – gib es her!«
»Nein!«, schrie Zorn.
»Auge!«, schrie Wespe. »Her damit!«
Sie schlug ihrer Schwester Zorn auf den Rücken. Ich hörte ein Übelkeit erregendes POPP und dann flog etwas aus Zorns Gesicht. Zorn griff danach, versuchte, es aufzufangen, schlug aber nur mit dem Handrücken dagegen. Die schleimige Kugel segelte über ihre Schulter auf die Rückbank und genau auf meinen Schoß.