Ich fuhr dermaßen hoch, dass mein Kopf gegen die Decke knallte und das Auge davonkullerte.
»Ich kann nichts sehen!«, heulten alle drei Schwestern.
»Gib mir das Auge!«, jaulte Wespe.
»Gib ihr das Auge«, schrie Annabeth.
»Ich hab es nicht!«, sagte ich.
»Da, bei deinem Fuß«, sagte Annabeth. »Nicht drauftreten. Heb es auf!«
Das Taxi knallte gegen die Leitplanke und schlitterte mit entsetzlichem Scharren weiter. Das ganze Taxi bebte und grauer Rauch stieg auf, als ob es sich vor Anstrengung schon auflöste.
»Mir wird schlecht«, warnte uns Tyson.
»Annabeth!«, schrie ich. »Gib Tyson deinen Rucksack!«
»Spinnst du? Heb das Auge auf!«
Wespe riss das Lenkrad herum und der Wagen schleuderte weg von der Leitplanke. Wir rasten von der Brücke in Richtung Brooklyn, schneller als irgendein Menschentaxi. Die Grauen Schwestern schrien und schlugen aufeinander ein und jammerten nach ihrem Auge.
Schließlich nahm ich mich zusammen. Ich riss einen Fetzen von meinem Batikhemd, das wegen der Brandlöcher ohnehin schon auseinanderfiel, und hob damit das Auge vom Boden auf.
»Braver Junge!«, rief Zorn, die irgendwie zu wissen schien, dass ich ihr verlorenes Glubschauge hatte. »Her damit!«
»Erst müsst ihr erklären«, sagte ich, »was das heißen sollte, der gewünschte Ort!«
»Keine Zeit!«, rief Sturm. »Gas geben!«
Ich schaute aus dem Fenster. Jetzt schossen Autos und Bäume und ganze Wohnblocks als graues Geflimmer vorbei. Brooklyn lag schon hinter uns und wir fuhren mitten durch Long Island.
»Percy«, mahnte Annabeth. »Ohne das Auge finden sie den Weg nicht. Und dann fahren sie einfach nur immer schneller, bis wir in eine Million Stücke zerbersten.«
»Erst müssen sie es uns sagen«, verlangte ich. »Oder ich mache das Fenster auf und werfe das Auge auf die Gegenfahrbahn.«
»Nein!«, schrien die Grauen Schwestern. »Zu gefährlich!«
»Ich öffne jetzt das Fenster!«
»Warte!«, schrien die Grauen Schwestern. »30, 31, 75, 12!« Das brüllten sie wie ein Quarterback, der ein Footballspiel kommentiert.
»Was soll das denn heißen?«, fragte ich. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»30, 31, 75, 12!«, heulte Zorn. »Mehr können wir dir nicht sagen! Und jetzt gib uns das Auge! Sind fast da!«
Wir hatten den Highway verlassen und jagten durch die ländlichen Gebiete im Norden von Long Island. Ich konnte vor uns Half-Blood Hill sehen mit der riesigen Fichte darauf – Thalias Baum, in dem die Lebenskraft einer gefallenen Heldin steckte.
»Percy!«, sagte Annabeth noch dringlicher. »Gib ihnen sofort das Auge!«
Ich beschloss, ihr nicht mehr zu widersprechen. Ich warf das Auge in Wespes Schoß.
Die alte Dame schnappte es, schob es in ihre Augenhöhle wie eine Kontaktlinse und zwinkerte. »Woa!«
Sie stieg auf die Bremse. Das Taxi drehte sich vier- oder fünfmal in einer Rauchwolke um sich selbst und kam dann kreischend mitten auf der Landstraße vor Half-Blood Hill zum Stehen.
Tyson ließ ein lautes Rülpsen hören.
»Jetzt besser.«
»Na gut«, sagte ich zu den Grauen Schwestern. »Und jetzt sagt mir, was diese Ziffern bedeuten.«
»Keine Zeit!« Annabeth öffnete ihre Tür. »Wir müssen sofort aussteigen!«
Ich wollte fragen, warum, aber dann schaute ich zum Half-Blood Hill hoch und wusste Bescheid.
Oben sah ich eine Gruppe von Campbewohnern. Und sie wurden gerade angegriffen.
Tyson spielt mit dem Feuer
Wenn ich, mythologisch gesprochen, etwas noch mehr hasse als Dreiergruppen von alten Damen, dann sind das Stiere. Vergangenen Sommer hatte ich auf dem Half-Blood Hill gegen den Minotaurus gekämpft. Was ich jetzt dort oben sah, war noch schlimmer. Zwei Stiere. Und nicht einfach normale Stiere – sondern Bronzestiere von Elefantengröße. Und das war noch nicht alles. Sie mussten natürlich auch noch Feuer speien.
Kaum hatten wir das Taxi verlassen, wendeten die Grauen Schwestern und jagten zurück nach New York City, wo es nicht so gefährlich war. Sie warteten nicht einmal auf die zusätzlichen drei Drachmen, sie ließen uns einfach am Straßenrand stehen; Annabeth mit nichts als ihrem Rucksack und ihrem Messer, Tyson und ich immer noch in unseren versengten Batikturnhemden.
»O Mann«, sagte Annabeth und schaute hoch zu der auf dem Hügel tobenden Schlacht.
Was mir am meisten Sorgen machte, waren eigentlich nicht die Stiere. Oder die zehn Helden in voller Rüstung, die gerade ihre mit Bronze verkleideten Hintern versohlt bekamen. Was mir Sorgen machte, war, dass die Stiere überall auf dem Hügel waren, sogar auf der anderen Seite der Fichte. Das hätte eigentlich nicht möglich sein dürfen. Die magischen Grenzen des Camps erlaubten es Ungeheuern nicht, an Thalias Baum vorbeizugelangen. Aber die Metallstiere schafften es doch.
Eine Rüstung schrie: »Grenzpatrouille, zu mir!« Es war eine Mädchenstimme, grob und vertraut.
Grenzpatrouille?, dachte ich. Im Lager gab es doch gar keine Grenzpatrouille.
»Das ist Clarisse«, sagte Annabeth. »Los, wir müssen ihr helfen.«
Normalerweise hätte es nicht gerade sehr weit oben auf meiner Liste gestanden, Clarisse zu helfen. Sie war eine der miesesten Zicken im Camp. Bei unserer ersten Begegnung hatte sie versucht, meinen Kopf mit einer Toilette bekannt zu machen. Und sie war die Tochter des Ares und ich hatte im vergangenen Sommer mit ihrem Vater eine schwerwiegende Meinungsverschiedenheit gehabt, weshalb der Kriegsgott und alle seine Kinder mich durch und durch verabscheuten.
Aber jetzt hatte sie Ärger. Die anderen Kämpfenden rannten in Panik auseinander, als die Stiere angriffen. Das Gras um die Fichte herum brannte. Ein Kämpfer schrie und rannte im Kreis, während die Helmzier auf seinem Kopf loderte wie ein feuriger Irokesenschnitt.
Clarisse’ Rüstung war schon ziemlich ramponiert. Sie kämpfte mit einem abgebrochenen Speerschaft, das andere Ende steckte nutzlos in dem Metallgelenk in der Schulter eines Stiers.
Ich drehte die Kappe von meinem Kugelschreiber. Der schimmerte, wuchs und wurde schwerer – und dann hielt ich das Bronzeschwert Anaklysmos in der Hand. »Tyson, du bleibst hier! Du darfst dein Leben nicht noch mal aufs Spiel setzen!«
»Nein!«, sagte Annabeth. »Wir brauchen ihn!«
Ich starrte sie an. »Er ist ein Sterblicher. Mit den Kugeln hat er Glück gehabt, aber er kann doch nicht …«
»Percy, weißt du, was das da oben ist? Das sind die Stiere von Colchis, geschmiedet von Hephaistos persönlich. Wir können nicht ohne Medeas Sonnenschild mit Lichtschutzfaktor 50000 gegen sie kämpfen. Wir würden sonst zu Rußflocken verbrannt werden.«
»Medeas was?«
Annabeth wühlte in ihrem Rucksack und fluchte. »Ich hab zu Hause einen Krug mit tropischem Kokosduft. Warum hab ich den nicht mitgebracht?«
Ich hatte längst gelernt, Annabeth nicht zu viele Fragen zu stellen. Das verwirrte mich nur noch mehr. »Hör mal, ich weiß nicht, wovon du redest, aber ich lasse nicht zu, dass Tyson gegrillt wird.«
»Percy …«
»Tyson, zurück!« Ich hob mein Schwert. »Ich geh jetzt los.«
Tyson wollte protestieren, aber ich rannte schon den Hügel hoch auf Clarisse zu, die ihre Patrouille anschrie und versuchte, sie in Formation einer Phalanx aufzustellen. Das war eine gute Idee. Die Wenigen, die zuhörten, traten Schulter an Schulter an und hoben ihre Schilde zu einer Bronze- und Stierledermauer, über die ihre Speere lugten wie Stachelschweinborsten.
Leider konnte Clarisse nur sechs Leute aufbieten. Die anderen vier rannten mit brennenden Helmen durch die Gegend. Annabeth stürzte los und versuchte, ihnen zu helfen. Sie reizte einen Stier so lange, bis er sie verfolgte, dann machte sie sich unsichtbar, was das Ungeheuer in arge Verwirrung stürzte. Der andere Stier griff Clarisse’ Phalanx an.
Ich hatte den Hang erst halb hinter mich gebracht und war zu weit weg, um helfen zu können. Clarisse hatte mich noch nicht einmal entdeckt.