Ich schaute in die glasigen Augen des Orakels und beschloss, nicht zu widersprechen. Wir gingen nach unten zu den anderen. Ich wusste es damals noch nicht, aber das war mein letzter Besuch in der Mansarde.
Die Hüttenältesten hatten sich um den Pingpong-Tisch versammelt. Fragt mich nicht warum, aber der Hobbyraum war zum inoffiziellen Hauptquartier des Kriegsrats geworden. Was Annabeth, Chiron und ich hörten, als wir hereinkamen, wirkte aber eher wie ein Brüllwettbewerb.
Clarisse war noch immer in voller Schlachtausrüstung. Ihr elektrischer Speer war auf ihren Rücken geschnallt. (Es war streng genommen ihr zweiter elektrischer Speer, da ich den ersten zerbrochen hatte. Sie nannte ihren Speer »Fetzer«, aber hinter ihrem Rücken sagten alle anderen »Schwätzer«.) Sie hatte ihren Helm in Gestalt eines Wildschweins unter dem Arm und ein Messer im Gürtel.
Sie brüllte gerade Michael Yew an, den neuen Hüttenältesten von Apollo, was ziemlich komisch aussah, weil Clarisse einen Kopf größer war. Michael hatte die Apollo-Hütte übernommen, nachdem Lee Fletcher im vergangenen Sommer in der Schlacht gefallen war. Michael war keine eins sechzig groß, hatte aber ein Selbstvertrauen wie eins neunzig. Er erinnerte mich an ein Frettchen, mit spitzer Nase und zerknautschten Zügen – entweder weil er so oft die Stirn runzelte oder weil er zu oft an einem Pfeil entlangstarrte.
»Das ist unsere Beute!«, schrie er und stellte sich auf Zehenspitzen, um Clarisse ins Gesicht sehen zu können. »Und wenn dir das nicht passt, dann kannst du mich mal am Köcher lecken!«
Die Leute am Tisch versuchten, nicht zu lachen – die Stoll-Brüder, Pollux aus der Dionysos-Hütte, Katie Gardner aus Demeter. Sogar Jack Mason, der in aller Eile frisch ernannte Hüttenälteste der Hephaistos-Hütte, brachte ein müdes Lächeln hervor. Nur Silena Beauregard reagierte nicht. Sie saß neben Clarisse und starrte mit leerem Blick das Pingpong-Netz an. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Vor ihr stand unberührt eine Tasse heiße Schokolade. Es kam mir nicht richtig vor, dass sie hier sein musste. Ich konnte es nicht fassen, dass Clarisse und Michael sich direkt neben ihr über etwas so Blödes stritten wie Beute, wo sie gerade Beckendorf verloren hatte.
»Aufhören!«, brüllte ich. »Was soll das denn?«
Clarisse starrte mich wütend an. »Sag Michael, er soll nicht so ein selbstsüchtiger Trottel sein.«
»Toll, gerade von dir sowas zu hören«, sagte Michael.
»Ich bin nur hier, um Silena zu helfen!«, brüllte Clarisse. »Sonst wäre ich in meiner Hütte.«
»Worüber redet ihr eigentlich?«, fragte ich.
Pollux räusperte sich. »Clarisse weigert sich, mit uns zu reden, bis diese, äh, Angelegenheit geklärt ist. Sie hat seit drei Tagen nichts mehr gesagt.«
»Das war wunderbar«, sagte Travis Stoll sehnsüchtig.
»Was für eine Angelegenheit?«, fragte ich.
Clarisse drehte sich zu Chiron um. »Sie haben hier doch zu bestimmen, oder? Kriegt meine Hütte, was wir wollen, oder nicht?«
Chiron scharrte mit den Füßen. »Meine Liebe, wie ich bereits erklärt habe, hat Michael Recht. Apollos Hütte hat den größeren Anspruch. Außerdem haben wir wichtigere Dinge …«
»Klar doch«, fauchte Clarisse. »Immer gibt es wichtigere Dinge als das, was Ares zusteht. Wir sollen einfach zum Kampf antreten, wenn ihr uns braucht, und uns ansonsten nicht beschweren.«
»Das wäre toll«, murmelte Connor Stoll sehnsüchtig.
Clarisse packte ihr Messer. »Vielleicht sollte ich Mr D fragen …«
»Wie du weißt«, fiel Chiron ihr ins Wort, und er klang jetzt ein wenig verärgert, »hat unser Direktor, Dionysos, mit dem Krieg genug zu tun. Wir dürfen ihn hiermit nicht belästigen.«
»Schon verstanden«, sagte Clarisse. »Und die Hüttenältesten? Wollt ihr denn alle nicht zu mir halten?«
Jetzt lächelte niemand. Niemand erwiderte Clarisse’ Blick.
»Schön.« Clarisse drehte sich zu Silena um. »Tut mir leid. Ich wollte dich hier nicht reinziehen, wo du doch gerade erst … egal, ich bitte um Entschuldigung. Und zwar nur dich. Sonst niemanden.«
Silena schien das alles gar nicht gehört zu haben.
Clarisse warf ihr Messer auf den Pingpong-Tisch. »Und ihr anderen könnt euren Krieg ohne Ares ausfechten. Solange ich keine Genugtuung kriege, wird niemand aus meiner Hütte auch nur einen Finger rühren. Viel Spaß beim Sterben.«
Die Hüttenältesten waren alle sprachlos, als Clarisse aus dem Zimmer stürzte.
Endlich sagte Michael Yew: »Gut, dass wir die los sind.«
»Spinnst du?«, widersprach Katie Gardner. »Das ist eine Katastrophe.«
»Das kann sie nicht ernst meinen«, sagte Travis. »Oder doch?«
Chiron seufzte. »Ihr Stolz ist verletzt. Sie wird sich schon noch beruhigen.« Aber er klang so, als ob er das selbst nicht glaubte.
Ich hätte gern gefragt, worüber zum Henker Clarisse denn so wütend war, aber ich sah Annabeth an und ihre Lippen formten die Worte: Erzähl ich dir später.
»Also«, sagte Chiron. »Bitte, Hüttenälteste. Percy hat etwas mitgebracht, was ihr meiner Ansicht nach hören solltet. Percy – die Große Weissagung.«
Annabeth reichte mir das Pergament. Es fühlte sich alt und trocken an, und ich fummelte am Bindfaden herum. Ich rollte es auseinander, versuchte, es nicht einzureißen, und fing an zu lesen:
»Ein Halbblut des ältesten Schlottergeflechts …«
»Äh, Percy«, unterbrach mich Annabeth. »Da steht Göttergeschlecht.«
»Ach, richtig«, sagte ich. Legasthenie gehört zu den typischen Merkmalen eines Halbgottes, aber manchmal hasse ich dieses Problem wirklich. Je nervöser ich bin, umso schlechter kann ich lesen. »Ein Halbgott des ältesten Göttergeschlechts … wird sechzehn werden im großen Gefecht …«
Ich zögerte und starrte die nächsten Zeilen an. Meine Finger wurden kalt, als ob das Papier gefroren wäre.
»In endlosem Schlaf sieht der Heros die Welt,
seine Seele wird von verfluchter Klinge gefällt.«
Plötzlich kam mir Springflut in meiner Tasche schwerer vor. Eine verfluchte Klinge? Chiron hatte mir einmal erzählt, dass Springflut vielen Menschen Kummer gebracht hatte. War es möglich, dass mein eigenes Schwert mir den Tod bringen würde? Und wie sollte ich die Welt in endlosem Schlaf sehen, wenn damit nicht der Tod gemeint war?
»Percy«, drängte Chiron. »Lies weiter.«
Mein Mund fühlte sich an, als wäre er voll Sand, aber ich las die nächsten beiden Zeilen vor.
»Eine einzige Entscheidung … wird sein Leben beenden.
Den Olymp zu kas… – kastrieren …«
»Kassieren«, sagte Annabeth sanft. »Das bedeutet einnehmen.«
»Ich weiß, was das bedeutet«, sagte ich mürrisch. »Den Olymp zu kassieren oder das Schicksal zu wenden.«
Im Raum war alles still. Endlich sagte Connor Stolclass="underline" »Kassieren ist doch gut, oder?«
»Nicht unbedingt«, sagte Silena. Ihre Stimme klang hohl, aber es verwirrte mich, dass sie überhaupt etwas sagte. »Es bedeutet auch ungültig machen, zerstören.«
»Vernichten«, sagte Annabeth. »Auslöschen. Zu Klump schlagen.«
»Schon verstanden.« Mein Herz war bleischwer. »Danke.«
Alle sahen mich an – voller Sorge oder Mitleid und vielleicht mit ein wenig Furcht.
Chiron schloss die Augen wie zum Beten. Sein Kopf streifte fast die Lampen im Raum. »Jetzt weißt du, Percy, warum wir es für besser hielten, dir nicht die ganze Weissagung zu verraten. Du hattest auch so schon genug zu tragen …«
»Ohne zu wissen, dass ich am Ende ohnehin sterben werde?«, fragte ich. »Alles klar, schon verstanden.«
Chiron starrte mich traurig an. Dieser Mann war dreitausend Jahre alt. Er hatte Hunderte von Helden sterben sehen; es gefiel ihm vielleicht nicht gerade, aber er war daran gewöhnt. Er versuchte gar nicht erst, mir Mut zuzusprechen.