»Percy«, sagte Annabeth. »Du weißt, dass Weissagungen immer mehrere Bedeutungen haben. Das muss nicht wortwörtlich bedeuten, dass du stirbst.«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Eine einzige Entscheidung wird sein Leben beenden. Das hat jede Menge Bedeutungen, oder was?«
»Vielleicht können wir etwas dagegen tun«, schlug Jake Mason vor. »Seine Seele wird von verfluchter Klinge gefällt. Vielleicht können wir diese verfluchte Klinge finden und sie zerstören. Klingt doch nach Kronos’ Sense, oder?«
Da war ich noch gar nicht drauf gekommen, aber es spielte keine Rolle, ob Springflut oder Kronos’ Sense die verfluchte Klinge war. Ich glaubte einfach nicht, dass wir die Weissagung verhindern könnten. Eine Klinge sollte meine Seele fällen. Ich wollte meine Seele aber eigentlich gar nicht fällen lassen.
»Vielleicht sollten wir Percy Zeit zum Nachdenken geben«, sagte Chiron. »Er muss sich überlegen …«
»Nein.« Ich faltete die Weissagung zusammen und steckte sie in die Tasche. Ich war trotzig und wütend, wenn ich auch nicht so recht wusste, auf wen ich wütend war. »Ich brauche keine Zeit. Wenn ich sterbe, dann sterbe ich. Darüber brauche ich mir doch wohl nicht groß den Kopf zu zerbrechen, oder?«
Annabeths Hände zitterten ein wenig. Sie wich meinem Blick aus.
»Machen wir weiter«, sagte ich. »Wir haben noch andere Probleme. Wir haben einen Spion unter uns.«
Michael Yew runzelte die Stirn. »Einen Spion?«
Ich erzählte ihnen, was auf der Prinzessin Andromeda passiert war – dass Kronos von unserem Kommen gewusst hatte und mir den silbernen sensenförmigen Anhänger gezeigt hatte, über den er mit jemandem im Camp kommunizierte.
Silena fing wieder an zu weinen und Annabeth legte ihr den Arm um die Schultern.
»Na ja«, sagte Connor Stoll und schien sich gar nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Wir vermuten doch seit Jahren, dass es einen Spion gibt, oder? Irgendwer hat Luke Informationen zugespielt – wie vor zwei Jahren das Versteck des Goldenen Vlieses. Es muss jemand sein, der ihn gut gekannt hat.«
Vielleicht hatte er Annabeth nur unbewusst angeschaut. Sie hatte Luke natürlich besser gekannt als alle anderen, aber Connor wandte sich ganz schnell wieder ab. »Äh, ich meine, es könnte natürlich jeder sein.«
»Genau.« Katie Gardner musterte die Stoll-Brüder stirnrunzelnd. Sie konnte sie nicht leiden, seit sie einmal das Dach der Demeter-Hütte mit Schokoladenosterhasen dekoriert hatten. »Eins von Lukes Geschwistern zum Beispiel.«
Travis und Connor fingen sofort an, mit ihr zu streiten.
»Aufhören!« Silena schlug so wütend auf den Tisch, dass ihre Schokolade überschwappte. »Charlie ist tot und … und ihr zankt euch alle wie kleine Kinder!« Sie ließ den Kopf sinken und fing an zu schluchzen.
Die Schokolade tropfte vom Pingpong-Tisch. Alle sahen beschämt aus, und endlich sagte Pollux: »Es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen. Wir müssen Ausschau nach einer silbernen Halskette mit einem Sensenanhänger halten. Wenn Kronos einen hat, dann hat der Spion vermutlich auch einen.«
Michael Yew grunzte. »Wir müssen diesen Spion finden, ehe wir unseren nächsten Einsatz planen. Dass wir die Prinzessin Andromeda in die Luft gesprengt haben, wird Kronos nicht lange aufhalten.«
»Nein, sicher nicht«, sagte Chiron. »Sein nächster Angriff läuft schon.«
Ich runzelte die Stirn. »Sie meinen, die größere Bedrohung, die Poseidon erwähnt hat?«
Er und Annabeth wechselten einen Blick, der zu sagen schien: Es ist Zeit. Habe ich schon erwähnt, dass es mich wahnsinnig nervt, wenn sie das tun? »Percy«, sagte Chiron. »Wir wollten es dir eigentlich erst bei deiner Rückkehr ins Camp sagen. Du brauchtest eine Pause, zusammen mit deiner … deinen sterblichen Freunden.«
Annabeth wurde rot. Mir ging auf, dass sie wusste, dass ich mich mit Rachel getroffen hatte, und sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. Dann war ich wütend, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich durfte ja wohl auch mal Leute außerhalb des Camps treffen, oder was? Das hieß doch nicht …
»Also, was ist passiert?«, sagte ich.
Chiron nahm einen Bronzekelch vom Tisch. Er goss Wasser auf die Kochplatte, auf der wir normalerweise Nachokäse schmolzen. Dampf stieg auf und bildete einen Regenbogen. Chiron fischte eine goldene Drachme aus dem Beutel, warf ihn durch den Nebel und murmelte: »Oh Iris, Göttin des Regenbogens, zeig uns die Bedrohung.«
Der Nebel bewegte sich. Ich sah das vertraute Bild eines schwelenden Vulkans. Vor meinen Augen explodierte die eine Seite des Bergs. Feuer, Asche und Lava wurden herausgeschleudert. Eine Nachrichtenstimme sagte: »… noch größer als der Ausbruch letztes Jahr, und Geologen fürchten, dass das noch nicht alles war.«
Ich wusste alles über den Ausbruch letztes Jahr. Ich hatte ihn ausgelöst. Aber diese Explosion war noch viel schlimmer. Der Berg riss auf, brach in sich zusammen und eine gewaltige Gestalt erhob sich aus Rauch und Lava wie aus einer Luke. Ich hoffte, dass der Nebel die Sterblichen davor bewahrte, das Wesen zu sehen, denn sein Anblick würde in den gesamten Vereinigten Staaten Panik und Aufruhr auslösen.
Der Riese war größer als alles, was mir jemals über den Weg gelaufen war. Nicht einmal meine Halbgottaugen konnten durch Asche und Feuer seine genaue Gestalt erkennen, aber er war vage humanoid und so riesig, dass er das Chrysler Building als Baseballschläger hätte benutzen können. Der Berg erbebte mit einem grauenhaften Grollen, als lache das Ungeheuer.
»Er ist es«, sagte ich. »Typhon.«
Ich hoffte ernstlich, dass Chiron etwas sagen würde wie: Nein, das ist unser riesiger Freund Leroy. Er kommt uns zu Hilfe. Aber das tat er nicht. Er nickte einfach nur. »Das entsetzlichste Monster von allen, die größte Einzelgefahr, der die Götter sich jemals stellen mussten. Er ist endlich aus dem Berg befreit worden. Aber diese Szene ist zwei Tage alt. Jetzt kommt das, was heute passiert.«
Chiron winkte und das Bild änderte sich. Ich sah eine Wolkenbank, die sich über die Ebenen im Mittleren Westen bewegte. Blitze loderten auf. Tornados zerstörten alles, was ihnen in den Weg kam – sie rissen Häuser und Lastwagen mit sich und warfen Autos durch die Luft wie Spielzeug.
»Gewaltige Überschwemmungen«, sagte der Sprecher. »Fünf Staaten haben den Notstand ausgerufen, während der unerwartete Sturm nach Osten fegt und sein Zerstörungswerk fortsetzt.«
Die Kamera schwenkte zu einer Windsäule, die auf irgendeine Stadt im Mittleren Westen zuhielt. Ich konnte nicht erkennen, welche es war. Im Sturm erahnte ich den Riesen – aber ich sah nur Fetzen von seiner wahren Gestalt: einen rauchigen Arm, eine dunkle Krallenhand, so groß wie ein Wohnblock. Sein Gebrüll rollte durch die Ebene wie eine Atomexplosion. Kleinere Gestalten jagten durch die Wolken und umkreisten das Monster; ich sah Blitze und mir ging auf, dass der Riese versuchte, diese kleinen Gestalten zu zerquetschen. Ich kniff die Augen zusammen und glaubte, einen goldenen Wagen in das Schwarze fliegen zu sehen. Dann stieß ein riesiger Vogel – eine monströse Eule – vom Himmel herab, um den Riesen anzugreifen.
»Sind das … die Götter?«, fragte ich.
»Ja, Percy«, sagte Chiron. »Sie kämpfen schon seit Tagen gegen ihn und versuchen, ihn aufzuhalten. Aber Typhon rückt vor – auf New York zu. Auf den Olymp.«
Das musste ich erst einmal verdauen. »Wann wird er hier sein?«
»Falls die Götter ihn nicht stoppen können? Vielleicht in fünf Tagen. Die meisten Olympier sind dort … außer deinem Vater, der seinen eigenen Krieg ausfechten muss.«
»Aber wer bewacht den Olymp?«
Connor Stoll schüttelte den Kopf. »Wenn Typhon New York erreicht, dann spielt es keine Rolle mehr, wer den Olymp bewacht.«
Ich dachte daran, was Kronos auf dem Schiff gesagt hatte: Ich würde so gern das Entsetzen in deinen Augen sehen, wenn dir aufgeht, wie ich den Olymp zerstören werde.