»Percy«, murmelte Rachel, als wüsste sie, dass ich zuhörte. »Was ist bloß los?«
Der Traum verschwamm, und das Letzte, was ich noch weiß, ist, dass ich mir wünschte, ihre Frage beantworten zu können.
Am nächsten Morgen hätte ich sie gern angerufen, aber im Camp gab es kein Telefon. Dionysos und Chiron brauchten keinen Festanschluss. Sie konnten über Iris direkt mit dem Olymp sprechen, wenn sie etwas brauchten. Und wenn Halbgötter Mobiltelefone benutzen, aktivieren die Signale jedes Monster im Umkreis von hundert Kilometern. Genauso gut könnten wir schreien: Hier bin ich! Bitte, poliert mir die Fresse!
Die meisten Halbgötter (außer Annabeth und ein paar anderen) haben nicht mal ein Handy. Und ich konnte schließlich nicht zu Annabeth sagen: »He, gib mir mal dein Telefon, damit ich Rachel anrufen kann.« Also müsste ich dafür mehrere Kilometer zum nächsten Supermarkt laufen. Und selbst, wenn Chiron das erlaubte – wenn ich dort ankäme, würde Rachel schon im Flugzeug nach St. Thomas sitzen.
Ich verzehrte ganz allein am Poseidon-Tisch ein deprimierendes Frühstück. Ich starrte immer wieder den Riss im Marmorboden an, wo zwei Jahre zuvor Nico eine Bande blutrünstiger Skelette in die Unterwelt verbannt hatte. Diese Erinnerung verbesserte meinen Appetit nicht gerade.
Nach dem Frühstück machten Annabeth und ich uns an die Inspektion der Hütten. Eigentlich war Annabeth damit an der Reihe. Meine Morgenaufgabe bestand darin, Berichte für Chiron durchzusehen. Aber da wir unsere Jobs beide hassten, beschlossen wir, beides zusammen zu erledigen, damit es nicht ganz so schlimm war.
Wir fingen mit der Poseidon-Hütte an, in der eigentlich nur ich wohnte. Ich hatte an diesem Morgen mein Bett gemacht (na ja, so halbwegs) und das Minotaurushorn an der Wand gerade gerückt, deshalb gab ich mir vier von fünf möglichen Punkten.
Annabeth verzog das Gesicht. »Du bist aber großzügig.« Mit dem Ende ihres Bleistifts fischte sie ein altes Paar Laufshorts vom Boden.
Ich riss sie ihr weg. »He, sei nicht so streng. In diesem Sommer räumt Tyson schließlich nicht hinter mir her.«
»Drei von fünf«, sagte Annabeth. Ich war nicht so dumm zu widersprechen, deshalb gingen wir weiter.
Ich versuchte, im Gehen Chirons Berichte durchzusehen. Es gab Nachrichten von Halbgöttern, Naturgeistern und Satyrn im ganzen Land, und in allen ging es um die neuesten Aktivitäten der Monster. Sie waren ganz schön deprimierend, und mein ADHD-Gehirn konnte sich auf Depri-Kram nun wirklich nicht konzentrieren.
Überall tobten kleine Schlachten. Die Anwerbungsquote für das Camp lag bei null. Es fiel den Satyrn schwer, neue Halbgötter zu finden und nach Half-Blood Hill zu bringen, weil im Land so viele Monster unterwegs waren. Unsere Freundin Thalia, die die Jägerinnen der Artemis anführte, hatte seit Monaten nichts von sich hören lassen, und falls Artemis wusste, wo sie sich aufhielt, dann gab sie dieses Wissen jedenfalls nicht weiter.
Wir inspizierten die Aphrodite-Hütte, die natürlich fünf von fünf Punkten bekam. Die Betten waren perfekt gemacht. Die Kleider in den Fächern waren nach Farben geordnet. Frische Blumen blühten auf den Fensterbänken. Ich wollte einen Punkt abziehen, weil die ganze Bude nach Designerparfüm stank, aber Annabeth hörte nicht auf mich.
»Großartig gemacht, wie immer, Silena«, sagte Annabeth.
Silena nickte traurig. Die Wand hinter ihrem Bett war mit Bildern von Beckendorf gepflastert. Sie saß auf ihrem Bett und hatte eine Schachtel Pralinen vor sich, und mir fiel ein, dass ihr Dad im Dorf einen Schoko-Laden besaß, was ihm Aphrodites Aufmerksamkeit eingetragen hatte.
»Möchtest du eine?«, fragte Silena. »Die hat mein Dad geschickt. Er dachte – er dachte, die könnten mich vielleicht aufheitern.«
»Sind sie denn gut?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Die schmecken wie Pappe.«
Ich hatte nichts gegen Pappe, deshalb nahm ich eine. Annabeth wollte nicht. Wir versprachen, später noch mal nach Silena zu sehen, und gingen weiter.
Als wir über den Vorplatz gingen, entbrannte gerade ein Kampf zwischen der Ares-und der Apollo-Hütte. Einige mit Brandbomben bewaffnete Apollo-Camper flogen in einem von zwei Pegasi gezogenen Wagen über die Ares-Hütte. Ich hatte den Wagen noch nie gesehen, aber er sah ziemlich cool aus. Bald brannte das Dach der Ares-Hütte und vom Kanusee kamen Najaden angestürzt, um Wasser darüberzuspritzen.
Dann belegten die Ares-Camper ihre Gegner mit einem Fluch und alle Pfeile der Apollo-Leute verwandelten sich in Gummi. Sie konnten zwar weiter schiessen, aber die Pfeile federten zurück.
Zwei Bogenschützen rannten vorbei, gejagt von wütenden Ares-Leuten, die in Versen brüllten: »Mich verfluchen? Das wirst du beklagen/Ich werd dich am Ende mit Reimen erschlagen!«
Annabeth seufzte. »Nicht schon wieder. Als Apollo das letzte Mal eine Hütte verflucht hat, durften sie erst nach einer Woche mit Reimen wieder aufhören.«
Mir schauderte. Apollo war der Gott der Dichtkunst und des Bogenschießens, und ich hatte ihn schon selbst dichten hören. Ehrlich gesagt würde ich mich lieber mit einem Pfeil erschießen lassen.
»Worum streiten sie denn überhaupt?«, fragte ich.
Annabeth beachtete mich nicht, sie kritzelte auf ihrer Inspektionsrolle herum und gab beiden Hütten einen von fünf möglichen Punkten.
Ich ertappte mich dabei, wie ich sie anstarrte, was blödsinnig war, ich hatte sie schließlich schon eine Milliarde Mal gesehen. Sie und ich waren in diesem Sommer gleich groß, was eine Erleichterung war. Aber sie kam mir trotzdem so viel reifer vor. Es war irgendwie einschüchternd. Ich meine, klar, sie war immer schon toll gewesen, aber jetzt fing sie an, zu einer wirklichen Schönheit zu werden.
Schließlich sagte sie: »Um den fliegenden Wagen.«
»Was?«
»Du wolltest doch wissen, worum sie streiten.«
»Ach ja, richtig.«
»Sie haben ihn vorige Woche bei einem Angriff in Philadelphia erbeutet. Einige von Lukes Halbgöttern waren mit diesem fliegenden Wagen da. Die Apollo-Hütte hat ihn sich während des Kampfes gekrallt, aber die Ares-Hütte hat den Angriff geleitet. Deshalb streiten sie sich seitdem darum, wer ihn bekommt.«
Wir duckten uns, als Michael Yews Wagen im Sturzflug auf einen Ares-Camper zubrauste. Der Ares-Camper versuchte, nach Michael zu stechen und ihn mit gereimten Zweizeilern zu verfluchen. Er war ziemlich kreativ, wenn es um gereimte Verwünschungen ging.
»Wir kämpfen um unser Leben«, sagte ich, »und die zanken sich um eine blöde Karre.«
»Das geht schon vorbei«, sagte Annabeth. »Clarisse wird irgendwann Vernunft annehmen.«
Da war ich mir nicht so sicher. Es klang überhaupt nicht nach der Clarisse, die ich kannte.
Ich sah noch einige Berichte durch und wir inspizierten weitere Hütten. Demeter bekam vier Punkte. Hephaistos bekam drei und wäre normalerweise noch weiter unten gelandet, aber nach der Sache mit Beckendorf sahen wir das nicht so eng. Hermes erzielte zwei, was nicht besonders überraschend war. Alle Camper, die ihren göttlichen Elternteil nicht kannten, wurden in die Hermes-Hütte gepfercht, und da die Götter in der Hinsicht ziemlich vergesslich waren, war diese Hütte immer überfüllt.
Endlich erreichten wir die Athene-Hütte, die wie immer ordentlich und sauber war. Die Bücher standen gerade in den Regalen. Die Rüstung war poliert. Schlachtübersichten und Bauzeichnungen schmückten die Wände. Nur Annabeths Bett war ein einziges Chaos. Es war mit Papieren übersät und ihr silberner Laptop war eingeschaltet.
»Vlacas«, murmelte Annabeth, was im Grunde bedeutete, dass sie sich auf Griechisch als Trottel bezeichnete.