Ihr Stellvertreter, Malcolm, unterdrückte ein Lächeln. »Ja, äh … wir haben alles andere sauber gemacht. Wussten nicht, ob wir deine Notizen anfassen durften.«
Das war vermutlich klug von ihm. Annabeth hatte ein Bronzemesser, das sie nur für Monster und für Leute, die in ihrem Kram herumfummelten, benutzte.
Malcolm grinste mich an. »Wir warten draußen, während ihr die Inspektion macht.« Die Athene-Leute zogen im Gänsemarsch aus der Tür, während Annabeth ihr Bett aufräumte.
Ich trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und gab vor, weiter Berichte durchzusehen. Streng genommen war es zwei Campern selbst während der Inspektion nicht erlaubt, … na ja, in einer Hütte allein zu sein.
Diese Regel war sehr oft Thema gewesen, seit Silena und Beckendorf zusammen waren. Und ich weiß, dass einige von euch jetzt denken: Sind nicht alle Halbgötter göttlicherseits miteinander verwandt? Dürfen die überhaupt was miteinander anfangen? Aber es ist so, dass die göttliche Seite unserer Familie keine Rolle spielt, da Götter genetisch gesehen irgendwie keine DNA haben. Und ein Halbgott würde niemals auf die Idee kommen, mit jemandem mit demselben göttlichen Elternteil zusammen zu sein. Zwei aus der Athene-Hütte? Nie und nimmer. Aber eine Tochter der Aphrodite und ein Sohn des Hephaistos? Kein Problem.
Aus irgendeinem Grund dachte ich darüber nach, als ich Annabeth beim Aufräumen zusah. Sie klappte den Laptop zu, den ihr im vergangenen Sommer der Erfinder Dädalus geschenkt hatte.
Ich räusperte mich. »Also … findest du in dem Ding da irgendwelche guten Ideen?«
»Zu viele«, sagte Annabeth. »Dädalus hatte so viele Ideen, ich könnte fünfzig Jahre damit verbringen, sie alle auszuprobieren.«
»Ja«, murmelte ich. »Da wäre bestimmt lustig.«
Sie schob ihre Papiere zusammen – vor allem Grundrisse von Gebäuden und eine Menge handgeschriebener Notizen. Ich wusste, dass sie später mal Architektin werden wollte, aber ich hatte auf die harte Tour gelernt, nicht zu fragen, woran sie gerade arbeitete. Dann redete sie nämlich über Winkel und statikrelevante Verstrebungen, bis mir die Augen zufielen.
»Weißt du«, sie schob sich die Haare hinter die Ohren, wie sie das immer macht, wenn sie nervös ist, »diese ganze Sache mit Beckendorf und Silena. Da macht man sich doch Gedanken. Darüber … was wichtig ist. Wie es ist, wichtige Menschen zu verlieren.«
Ich nickte. Mein Gehirn nahm jetzt kleine zufällige Details auf, wie die Tatsache, dass sie noch immer diese silbernen Eulenohrringe trug, die ihr Vater ihr geschenkt hatte, dieser verrückte Professor für Militärgeschichte in San Francisco.
»Äh, ja«, stammelte ich. »Ich meine … ist alles in Ordnung mit deiner Familie?«
Okay, wirklich blöde Frage, aber ich war eben nervös.
Annabeth machte ein enttäuschtes Gesicht, nickte aber.
»Mein Dad wollte eigentlich diesen Sommer mit mir nach Griechenland fahren«, sagte sie sehnsüchtig. »Ich wollte schon immer zum …«
»Zum Parthenon«, fiel mir jetzt ein.
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Ja.«
»Macht doch nichts. Es kommen noch andere Sommer, oder?«
Aber sowie ich das gesagt hatte, ging mir auf, was für ein blöder Spruch das war. Das Ende meiner Tage näherte sich. Im Laufe der vor uns liegenden Woche könnte der Olymp einstürzen. Wenn das Zeitalter der Götter wirklich zu Ende ging, würde die Welt sich ins Chaos auflösen. Die Halbgötter würden ausgerottet werden. Für uns würde es keine weiteren Sommer geben.
Annabeth starrte ihre Inspektionsrolle an. »Drei von fünf«, murmelte sie, »für eine schlampige Hüttenälteste. Na komm. Machen wir die Berichte fertig und gehen wir zurück zu Chiron.«
Auf dem Weg zum Hauptgebäude lasen wir den letzten Bericht, den ein Satyr in Kanada mit der Hand auf ein Ahornblatt geschrieben hatte. Wenn es überhaupt möglich gewesen wäre, mich noch nervöser zu machen, hätte diese Nachricht es getan.
»Lieber Grover«, las ich vor. »Wälder bei Toronto von brutalem Riesendachs angegriffen. Wollte deinem Rat folgen und die Kraft des Pan heraufbeschwören. Ohne Erfolg. Viele Najadenbäume zerstört. Rückzug nach Ottawa. Bitte um weitere Anweisungen. Wo steckst du? Gleeson Hedge, Beschützer.«
Annabeth schnitt eine Grimasse. »Du hast gar nichts von ihm gehört? Nicht mal über den Empathielink?«
Ich schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
Seit im vergangenen Sommer der Gott Pan gestorben war, hatte unser Freund Grover sich weiter und weiter von uns entfernt. Der Rat der Behuften Älteren behandelte ihn wie einen Ausgestoßenen, aber Grover reiste weiterhin an der Ostküste umher und verbreitete die Nachricht von Pans Tod, in dem Versuch, alle Naturgeister zur Verteidigung ihres kleinen Stückchens Wildnis zu überreden. Er war nur ein paar Mal ins Camp zurückgekehrt, um seine Freundin Wacholder zu besuchen.
Als ich zum letzten Mal von ihm gehört hatte, war er im Central Park gewesen, um die Dryaden zu organisieren, aber jetzt hatte ihn schon seit zwei Monaten niemand mehr gesprochen oder gesehen. Wir hatten versucht, Irisbotschaften zu schicken, aber die kamen nie durch. Ich hatte einen Empathielink zu Grover, deshalb hoffte ich, dass ich es wüsste, wenn ihm etwas passiert wäre. Grover hatte mir einmal gesagt, bei seinem Tod würde die Empathieverbindung auch mich töten, aber ich wusste nicht, ob das immer noch zutraf.
Ich fragte mich, ob er wohl noch in Manhattan war. Dann dachte ich an meinen Traum von Rachels Skizze – dunkle Wolken, die sich über der Stadt zusammenballten, eine Armee, die sich um das Empire State Building zusammenzog.
»Annabeth!« Ich wusste, dass ich geradezu um Ärger bettelte, aber ich hatte keine Ahnung, wem ich sonst vertrauen könnte. »Hör mal, ich hab da was geträumt, von, äh, Rachel …«
Ich erzählte ihr alles, sogar von dem seltsamen Bild, das Luke als Kind gezeigt hatte.
Zuerst sagte sie nichts. Dann rollte sie die Inspektionsrolle so fest auf, dass sie einriss. »Was soll ich denn dazu jetzt sagen?«
»Ich weiß nicht. Du bist die beste Strategin, die ich kenne. Wenn du Kronos wärst und diesen Krieg planen müsstest, was würdest du als Nächstes tun?«
»Ich würde Typhon zur Ablenkung einsetzen. Und dann würde ich den Olymp angreifen, während die Götter im Westen sind.«
»Genau wie auf Rachels Bild.«
»Percy«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Rachel ist eine gewöhnliche Sterbliche.«
»Aber was, wenn ihr Traum wahr ist? Diese anderen Titanen – die haben gesagt, der Olymp würde in wenigen Tagen zerstört werden. Sie haben gesagt, es kommen noch jede Menge anderer Herausforderungen. Und dann dieses Bild von Luke als Kind …«
»Wir müssen einfach bereit sein.«
»Wie denn?«, frage ich. »Sieh dir unser Camp an. Wir können ja nicht einmal damit aufhören, gegenseitig aufeinander loszugehen. Und außerdem soll doch meine blöde Seele gefällt werden.«
Sie ließ die Rolle fallen. »Ich hätte dir die Weissagung nicht zeigen dürfen.« Ihre Stimme klang wütend und verletzt. »Sie hat dir nur Angst gemacht. Und du läufst weg, wenn du Angst hast.«
Ich starrte sie total verdutzt an. »Ich? Ich laufe weg?«
Sie trat ganz dicht vor mich. »Ja, tust du. Du bist ein Feigling, Percy Jackson.«
Wir standen Nase an Nase da. Ihre Augen waren rot, und mir ging plötzlich auf, dass sie vielleicht gar nicht die Weissagung meinte, wenn sie mich als Feigling bezeichnete.
»Wenn dir die Lage im Camp nicht passt«, sagte sie, »dann solltest du vielleicht doch mit Rachel verreisen.«
»Annabeth …«
»Wenn dir unsere Gesellschaft nicht gefällt.«
»Das ist nicht fair!«
Sie drängte sich an mir vorbei und rannte auf die Erdbeerfelder hinaus.
Ich würde gern behaupten, dass mein Tag danach besser wurde. Aber das war natürlich nicht der Fall.
Am Nachmittag versammelten wir uns am Lagerfeuer, um Beckendorfs Leichenhemd zu verbrennen und Abschied zu nehmen. Sogar Ares und Apollo schlossen dafür vorübergehend Waffenstillstand.