Wacholder drehte sich zu mir um. Sie war auf dryadenhafte Weise hübsch mit ihrem hauchdünnen lila Kleid und ihrem Elfengesicht, aber ihre Augen waren vom Chlorophyll ihrer Tränen schon ganz grün.
»Percy«, schluchzte sie. »Ich habe ihn nach Grover gefragt. Ich weiß ganz einfach, dass etwas passiert ist. Er wäre nicht so lange weggeblieben, wenn er keine Probleme hätte. Ich hatte gehofft, Leneus könnte …«
»Ich hab es dir doch gesagt!«, fiel der Satyr ihr ins Wort. »Du bist ohne diesen Verräter besser dran.«
Wacholder stampfte mit dem Fuß auf. »Er ist kein Verräter. Er ist der tapferste Satyr aller Zeiten, und ich will wissen, wo er ist.«
»WUFF!«
Leneus’ Knie fingen an zu zittern. »Ich … ich beantworte keine Fragen, solange dieser Höllenhund an meinem Schwanz herumschnuppert.«
Nico sah aus, als ob er sich alle Mühe gab, nicht vor Lachen zu platzen. »Ich kann mit ihr Gassi gehen«, bot er an.
Er stieß einen Pfiff aus und Mrs O’Leary sprang hinter ihm her auf die andere Seite der Lichtung.
Leneus schnaubte erbost und wischte sich die Zweige vom Hemd. »Also, wie ich schon zu erklären versuchte, junge Dame, hat dein Liebster nicht einen einzigen Bericht geschickt, seit wir ihn ins Exil geschickt haben.«
»Ihr habt versucht, ihn ins Exil zu schicken«, korrigierte ich. »Chiron und Dionysos haben das verhindert.«
»Pah! Die sind nur Ehrenratsmitglieder. Das war keine richtige Abstimmung.«
»Ich werde Chiron erzählen, dass Sie das gesagt haben.«
Leneus erbleichte. »Ich meinte doch nur … also hör mal, Jackson. Das hier geht dich nichts an.«
»Grover ist mein Freund«, sagte ich. »Er hat Sie nicht angelogen, als es um Pans Tod ging. Ich habe es selbst gesehen. Sie hatten nur zu große Angst, um die Wahrheit zu akzeptieren.«
Leneus’ Lippen zitterten. »Nein! Grover ist ein Lügner, und es ist gut, dass wir ihn los sind. Ohne ihn sind wir besser dran.«
Ich zeigte auf die verwelkten Thronsessel. »Wenn alles so gut läuft, wo stecken dann Ihre Freunde? Ihr Rat hat sich in letzter Zeit anscheinend nicht getroffen.«
»Maron und Silenus … ich … ich bin sicher, dass sie bald wieder hier sein werden«, sagte er. Aber ich konnte die Panik in seiner Stimme hören. »Sie brauchen nur ein wenig Zeit zum Nachdenken. Es war ein sehr verwirrendes Jahr.«
»Und es wird noch viel verwirrender werden«, versprach ich. »Leneus, wir brauchen Grover. Sie müssen ihn mit Ihrer Magie doch auf irgendeine Weise finden können.«
Das Auge des alten Satyrn zuckte. »Ich sage dir doch, ich habe nichts gehört. Vielleicht ist er tot.«
Wacholder würgte ein Schluchzen hinunter.
»Er ist nicht tot«, sagte ich. »So viel spüre ich immerhin.«
»Empathielinks«, sagte Leneus verachtungsvoll. »Überaus unzuverlässig.«
»Dann forschen Sie nach«, drängte ich. »Suchen Sie ihn. Uns steht ein Krieg bevor. Grover wollte die Naturgeister mobilisieren.«
»Ohne meine Erlaubnis. Und unser Krieg ist das nicht!«
Ich packte ihn am Hemd, was mir wirklich nicht ähnlich sah, aber dieser blöde alte Bock trieb mich zum Wahnsinn. »Hören Sie, Leneus. Wenn Kronos angreift, wird er eine ganze Meute von Höllenhunden bei sich haben. Er wird alles vernichten, was ihm in den Weg kommt – Sterbliche, Götter, Halbgötter. Glauben Sie, er wird die Satyrn verschonen? Machen Sie sich auf den Weg und finden Sie heraus, was da vor sich geht! Finden Sie Grover und erzählen Sie Wacholder, wie es ihm geht. Und jetzt LOS!«
Ich versetzte ihm keinen harten Stoß, aber sein Schwerpunkt lag ziemlich weit oben. Weshalb er auf einen bepelzten Hintern fiel, sich dann auf die Hufe rappelte und mit wackelndem Schmerbauch davonrannte. »Grover wird niemals akzeptiert werden. Er wird als Ausgestoßener sterben!«
Als er im Gebüsch verschwunden war, wischte Wacholder sich die Augen. »Tut mir leid, Percy. Ich wollte dich da nicht reinziehen. Leneus ist noch immer ein Herr der Wildnis. Du solltest ihn dir nicht zum Feind machen.«
»Kein Problem«, sagte ich. »Ich habe viel schlimmere Feinde als übergewichtige Satyrn.«
Nico kam zu uns zurück. »Gute Arbeit, Percy. Wenn ich von der Spur aus Ziegenkötteln ausgehen darf, dann hast du ihn ganz schön fertiggemacht.«
Ich fürchtete zu wissen, warum Nico hier war, aber ich versuchte trotzdem, mir ein Lächeln abzuringen. »Schön, dass du wieder da bist. Bist du nur gekommen, um Wacholder zu besuchen?«
Er wurde rot. »Äh, nein. Das war ein Zufall. Ich bin sozusagen … mitten in ihre Unterhaltung geplatzt.«
»Er hat uns zu Tode erschreckt«, sagte Wacholder. »Kam einfach so aus den Schatten. Aber Nico, du bist doch der Sohn des Hades und überhaupt. Bist du sicher, dass du nichts von Grover gehört hast?«
Nico trat von einem Fuß auf den anderen. »Wacholder, ich habe doch schon versucht, dir das zu erklären … selbst, wenn Grover tot wäre, würde er als anderes Wesen in der Natur wiedergeboren werden. Ich kann so etwas nicht spüren, das geht nur bei sterblichen Seelen.«
»Aber wenn du irgendwas hörst?«, fragte sie flehend und legte ihm die Hand auf den Arm. »Egal was?«
Nicos Wangen wurden noch röter. »Äh, klar doch. Ich werde die Ohren offen halten.«
»Wir finden ihn, Wacholder«, versprach ich. »Grover lebt noch, da bin ich sicher. Es wird einen ganz einfachen Grund geben, warum er sich nicht bei uns gemeldet hat.«
Sie nickte düster. »Ich finde es schrecklich, dass ich den Wald nicht verlassen kann. Er könnte überall sein und ich sitze hier fest und muss warten. Ach, wenn dieser blöde Bock sich nur nicht in Gefahr gebracht hat …«
Mrs O’Leary kam auf uns zugesprungen und entwickelte großes Interesse an Wacholders Kleid.
Wacholder schrie auf. »Oh nein, bloß nicht! Mit Hunden und Bäumen kenne ich mich aus. Ich bin weg!«
Sie löste sich in grünen Nebel auf. Mrs O’Leary sah enttäuscht aus, trottete dann aber auf der Suche nach einem anderen Baum davon und ließ Nico und mich allein.
Nico schlug mit seinem Schwert auf den Boden. Aus der Erde quoll ein kleiner Haufen Tierknochen. Sie schlossen sich zum Skelett einer Feldmaus zusammen und rannten davon. »Das mit Beckendorf tut mir leid.«
Ich spürte einen Kloß im Hals. »Woher weißt du …?«
»Ich habe mit seinem Geist gesprochen.«
»Ach … stimmt.« Ich würde mich nie an die Tatsache gewöhnen, dass dieser zwölfjährige Junge häufiger mit den Toten sprach als mit den Lebenden. »Hat er etwas gesagt?«
»Er macht dir keine Vorwürfe. Er nimmt an, dass du dich mit Schuldgefühlen rumquälst, aber er sagt, du sollst das lassen.«
»Wird er Wiedergeburt beantragen?«
Nico schüttelte den Kopf. »Er will im Elysium bleiben. Sagt, dass er auf jemanden wartet. Bin nicht sicher, was er damit gemeint hat, aber er scheint den Tod im Griff zu haben.«
Das war kein großer Trost, aber es war doch immerhin etwas.
»Ich hatte eine Vision, in der du auf dem Mount Tam warst«, sagte ich dann. »War das …?«
»Ja«, sagte er. »Ich wollte eigentlich nicht bei den Titanen spionieren, aber ich war gerade in der Nähe.«
»Um was zu tun?«
Nico spielte an seinem Schwertgurt herum. »Ich habe eine Spur verfolgt, wegen … du weißt schon, meiner Familie.«
Ich nickte. Ich wusste, dass seine Vergangenheit ein wunder Punkt war. Bis vor zwei Jahren waren er und seine Schwester Bianca an einem Ort namens Lotos Hotel und Kasino in der Zeit hängen geblieben. Sie hatten an die siebzig Jahre dort verbracht, dann hatte ein geheimnisvoller Anwalt sie gerettet und in ein Internat gebracht. Nico hatte keine Erinnerungen an sein Leben vor dem Casino. Er wusste nichts über seine Mutter. Er wusste nicht, wer der Anwalt gewesen war oder warum sie in der Zeit festgehangen hatten und dann freigelassen worden waren. Seit Biancas Tod war er allein und davon besessen, die Antworten auf diese Fragen zu finden.
»Und wie ist es gelaufen?«, fragte ich. »Irgendwas erreicht?«