Mrs O’Leary fing an zu schnarchen. Ohne das Dröhnen des Verkehrs hinter uns hätte sie sicher die ganze Gegend geweckt.
»Willst du auch ein Nickerchen machen?«, fragte ich Nico.
Er schüttelte den Kopf. »Nach meiner ersten Schattenreise war ich eine Woche lang erledigt. Jetzt macht es mich nur ein wenig benommen, aber mehr als ein-oder zweimal pro Nacht schaffe ich es trotzdem nicht. Mrs O’Leary geht sicher erst mal nirgendwo mehr hin.«
»Wir haben jetzt also ein bisschen Zwangsurlaub in Connecticut.« Ich starrte das weiße Haus an. »Was jetzt?«
»Wir klingeln«, sagte Nico.
Wenn ich Lukes Mom gewesen wäre, hätte ich nicht mitten in der Nacht zwei fremden Jungs die Tür geöffnet. Aber ich war alles andere als Lukes Mom. Das wusste ich, noch ehe wir die Haustür erreicht hatten. Der Weg dahin war von so kleinen ausgestopften Knautschtieren gesäumt, wie man sie in Geschenkeläden kriegt. Es gab Minilöwen, Schweine, Drachen, Hydren, sogar einen winzigen Minotauros mit einer winzigen Minotauroswindel. So traurig schlaff, wie sie waren, mussten diese Knautschwesen hier schon lange sitzen – mindestens seit der Schneeschmelze im vergangenen Frühling. Einer Hydra wuchs sogar ein kleiner Baum zwischen den Hälsen.
Die Terrasse vor dem Haus war verseucht von Windorgeln. Leuchtendes Glas und Metallstücke klirrten im Wind. Messingstreifen plätscherten wie Wasser, und ich merkte, dass ich zur Toilette musste. Ich begriff nicht, wie Ms Castellan diesen Lärm aushalten konnte.
Die Vordertür war türkis gestrichen. Der Name Castellan stand dort auf Englisch und darunter auf Griechisch: Διοικητής φρουρίυ.
Nico sah mich an. »Bist du so weit?«
Er hatte die Tür kaum angetippt, als sie auch schon aufgerissen wurde.
»Luke!«, rief die alte Dame glücklich.
Sie sah aus, als steckte sie ihre Finger gern in Steckdosen. Ihre weißen Haare standen in Büscheln überall von ihrem Kopf ab und ihr weißes Hauskleid war von Brandspuren und Ascheflecken übersät. Als sie lächelte, sah ihr Gesicht unnatürlich gedehnt aus, und das Starkstrom-Licht in ihren Augen ließ mich überlegen, ob sie blind sein könnte.
»Ach, mein lieber Junge!« Sie umarmte Nico. Ich versuchte noch zu verstehen, warum sie Nico für Luke hielt (sie hatten nicht die geringste Ähnlichkeit), als sie mich anlächelte und sagte: »Luke!«
Nico war total vergessen und sie drückte mich an sich. Sie roch nach verbrannten Plätzchen und war dünn wie eine Vogelscheuche, aber dennoch hätte sie mich fast zerquetscht.
»Komm rein!«, verlangte sie. »Das Essen ist fertig.«
Sie schob uns ins Haus. Das Wohnzimmer war noch seltsamer als der Rasen vor dem Haus. Jede freie Stelle war mit Spiegeln und Kerzen vollgestellt und ich konnte nirgendwohin schauen, ohne mein Spiegelbild zu sehen. Über dem Kaminsims flog ein kleiner Bronzehermes als Sekundenzeiger einer tickenden Uhr im Kreis. Ich versuchte zu verstehen, wie der Gott der Boten sich jemals in diese alte Frau verlieben konnte, aber die Vorstellung war zu bizarr.
Dann sah ich das gerahmte Bild auf dem Kaminsims und erstarrte. Es sah genau aus wie Rachels Zeichnung – Luke mit etwa neun Jahren, mit blonden Haaren, einem strahlenden Lächeln und zwei Zahnlücken. Ohne die Narben in seinem Gesicht sah er aus wie ein ganz anderer – unbeschwert und glücklich. Wie konnte Rachel von diesem Bild gewusst haben?
»Hier lang, mein Lieber!« Ms Castellan lotste mich in den hinteren Teil des Hauses. »Ich habe ihnen ja gesagt, dass du zurückkommen würdest. Ich habe es gewusst!«
Wir setzten uns an den Küchentisch. Auf der Anrichte stapelten sich Hunderte – wirklich Hunderte – Plastikdosen mit Erdnussbutter-Marmelade-Sandwiches. Die untersten waren ganz grün und pelzig, als ob sie schon lange dort lägen. Der Geruch erinnerte mich an meinen Schrank in der sechsten Klasse – und das will wirklich was heißen.
Oben auf dem Herd waren Backbleche aufgetürmt und auf jedem lag ein Dutzend angebrannter Plätzchen. Im Spülbecken war ein Berg aus leeren Kool-Aid-Dosen. Eine Knautschmedusa saß neben dem Wasserhahn, als ob sie das Chaos bewachte.
Ms Castellan fing an zu summen, während sie Erdnussbutter und Marmelade aus dem Schrank nahm und noch ein Sandwich schmierte. Irgendetwas verbrannte im Ofen. Ich hatte das Gefühl, dass es sich um noch mehr Plätzchen handelte.
Über dem Spülbecken, um das ganze Fenster herumgeklebt, gab es Dutzende von kleinen Bildern, die aus Zeitschriften und Zeitungen ausgeschnitten waren. Bilder des Hermes vom Blumenboten-Logo und vom Paketdienst, Bilder des Caduceus aus der Medikamentenwerbung.
Mein Herz wurde schwer. Ich wollte weg aus diesem Raum, aber Ms Castellan lächelte mich weiter an, während sie das Brot schmierte, wie um sicherzustellen, dass ich nicht weglief.
Nico hüstelte. »Äh, Ms Castellan?«
»Mm?«
»Wir müssen Sie etwas über Ihren Sohn fragen.«
»Oh ja! Sie haben mir gesagt, er würde nie zurückkommen. Aber ich habe es besser gewusst.« Sie streichelte liebevoll meine Wange und verpasste mir dabei Rallye-Streifen aus Erdnussbutter.
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte Nico.
Ihre Augen wurden trübe.
»Er war so jung, als er weggegangen ist«, sagte sie sehnsüchtig. »Dritte Klasse. Das ist viel zu jung, um durchzubrennen! Er hat gesagt, er würde zum Mittagessen zurück sein. Und ich habe gewartet. Er mag gern Erdnussbutter-Sandwiches und Plätzchen und Kool-Aid. Bald wird er zum Essen wieder hier sein …« Dann sah sie mich an und lächelte. »Aber Luke, da bist du ja schon! Du siehst so gut aus. Du hast die Augen deines Vaters.«
Sie drehte sich zu dem Bild des Hermes über dem Spülbecken um. »Das ist wirklich ein guter Mann. Ja, das ist er. Er besucht mich oft, weißt du.«
Im anderen Zimmer tickte die Uhr. Ich wischte mir die Erdnussbutter aus dem Gesicht und schaute Nico flehend an, nach dem Motto: Können wir nicht machen, dass wir hier wegkommen?
»Ma’am«, sagte Nico. »Was, äh … was ist mit Ihren Augen passiert?«
Ihr Blick wirkte zersplittert – als ob sie versuchte, ihn durch ein Kaleidoskop zu betrachten. »Wieso fragst du, Luke, du kennst die Geschichte doch. War ja unmittelbar vor deiner Geburt. Ich war immer etwas Besonderes, sah durch den … wie wird das noch genannt?«
»Nebel?«, fragte ich.
»Ja, mein Lieber.« Sie nickte ermutigend. »Und sie haben mir eine wichtige Stelle angeboten. So etwas Besonderes war ich!«
Ich schaute zu Nico hinüber, aber der sah genauso verwirrt aus wie ich.
»Was denn für eine Stelle?«, fragte ich. »Was ist passiert?«
Ms Castellan runzelte die Stirn. Ihr Messer schwebte über dem Brot. »Tja, es ging eben nicht gut, verstehst du? Dein Vater hat auch gesagt, ich sollte es nicht versuchen. Es sei zu gefährlich, sagte er. Aber ich musste es tun. Das war mein Schicksal! Und jetzt … ich werde die Bilder noch immer nicht los. Und sie bringen mich so durcheinander. Möchtest du ein paar Plätzchen?«
Sie zog ein Blech aus dem Ofen und ließ ein Dutzend Schokobriketts auf den Tisch fallen.
»Luke war so lieb«, murmelte Ms Castellan. »Er ist weggegangen, um mich zu schützen, weißt du? Er hat geglaubt, wenn er wegginge, würden die Monster mir nichts tun. Aber ich habe ihm gesagt, dass die Monster keine Bedrohung sind. Sie sitzen den ganzen Tag draußen auf der Straße, aber sie kommen ja nicht rein.« Sie nahm die kleine Knautschmedusa von der Fensterbank. »Oder, Mrs Medusa? Nein, überhaupt keine Bedrohung.« Sie strahlte mich an. »Ich bin so froh, dass du nach Hause gekommen bist. Ich habe gewusst, dass du dich meinetwegen nicht schämst!«
Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her. Ich stellte mir vor, ich sei Luke, der mit acht oder neun Jahren an diesem Tisch saß, und dem gerade aufging, dass seine Mutter nicht alle beisammenhatte.
»Ms Castellan«, sagte ich.
»Mom«, korrigierte sie.
»Äh, ja. Haben Sie Luke noch mal gesehen, seit er von zu Hause weggegangen ist?«
»Aber natürlich!«