Ich wusste nicht, ob sie sich das einbildete oder nicht. Schließlich glaubte sie wahrscheinlich jedes Mal, wenn der Postbote vor der Tür stand, es sei Luke. Aber Nico beugte sich erwartungsvoll vor.
»Wann?«, fragte er. »Wann hat Luke Sie zuletzt besucht?«
»Na, das war … ach herrje …« Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. »Beim letzten Mal hat er so anders ausgesehen. Er hatte eine Wunde. Eine schreckliche Wunde, und so viel Schmerz in seiner Stimme …«
»Seine Augen«, fragte ich. »Waren die golden?«
»Golden?« Sie blinzelte. »Nein. Was für ein Unsinn. Luke hat blaue Augen. Wunderschöne blaue Augen.«
Luke war also wirklich hier gewesen, und zwar vor dem vergangenen Sommer – ehe er sich in Kronos verwandelt hatte.
»Ms Castellan?« Nico legte die Hand auf den Arm der alten Frau. »Das ist sehr wichtig. Hat er Sie um irgendetwas gebeten?«
Sie runzelte die Stirn, als versuche sie, sich zu erinnern. »Meinen – meinen Segen. Ist das nicht süß?« Sie sah uns verwirrt an. »Er wollte zu einem Fluss und sagte, er brauche meinen Segen. Den habe ich ihm gegeben. Natürlich habe ich das.«
Nico schaute mich triumphierend an. »Danke sehr, Ma’am. Das ist alles, was wir wissen …«
Ms Castellan keuchte auf. Sie krümmte sich und ihr Plätzchen fiel auf den Boden. Nico und ich sprangen auf.
»Ms Castellan?«, fragte ich.
»AHHHHHH!« Sie richtete sich auf. Ich wich zurück und wäre fast über den Küchentisch gefallen, weil ihre Augen – weil ihre Augen grün glühten.
»Mein Kind«, krächzte sie mit viel tieferer Stimme. »Muss ihn beschützen! Hermes, hilf! Nicht mein Kind! Nicht sein Schicksal – nein!«
Sie packte Nico an den Schultern und schüttelte ihn, wie um ihn zum Verstehen zu zwingen. »Nicht sein Schicksal!«
Nico stieß einen erstickten Schrei aus und stieß sie fort. Er packte seinen Schwertgriff. »Percy, wir müssen weg …«
Plötzlich brach Ms Castellan zusammen. Ich sprang auf sie zu und packte sie, ehe sie auf die Tischkante knallte. Dann führte ich sie zu einem Stuhl.
»Ms C?«, fragte ich. Sie murmelte etwas Unverständliches und schüttelte den Kopf. »Meine Güte. Ich … ich habe die Plätzchen fallen lassen. Wie dumm von mir.«
Sie blinzelte und ihre Augen waren wieder normal – oder jedenfalls so wie vorher. Das grüne Glühen war verschwunden.
»Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte ich.
»Aber natürlich, Lieber. Mir geht’s gut. Warum fragst du?«
Ich schaute zu Nico hinüber, und der formte mit den Lippen die Worte »Raus hier«.
»Ms C, Sie wollten uns etwas erzählen«, sagte ich. »Etwas über Ihren Sohn.«
»Wirklich?«, fragte sie zerstreut. »Ja, seine blauen Augen. Wir sprachen über seine blauen Augen. So ein hübscher Junge!«
»Wir müssen gehen«, drängte Nico. »Wir werden Luke sagen … äh, wir sagen ihm, dass Sie ihn grüßen lassen.«
»Aber ihr könnt nicht gehen!« Ms Castellan richtete sich unsicher auf und ich wich zurück. Es kam mir töricht vor, mich vor einer gebrechlichen alten Frau zu fürchten, aber so, wie ihre Stimme sich verändert hatte und wie sie Nico gepackt hatte …
»Hermes wird bald hier sein. Er will doch seinen Jungen sehen.«
»Nächstes Mal vielleicht«, sagte ich. »Danke für …« Ich schaute auf die verbrannten Plätzchen hinunter, die auf dem Boden verstreut lagen. »Danke für alles.«
Sie versuchte, uns aufzuhalten, bot uns Kool-Aid an, aber ich musste weg aus diesem Haus. Auf der Veranda packte sie mein Handgelenk und ich wäre fast aus der Haut gefahren. »Luke, pass auf dich auf. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst.«
»Das werde ich … Mom.«
Das entlockte ihr ein Lächeln. Sie ließ mein Handgelenk los, und als sie die Haustür schloss, konnte ich hören, wie sie mit den Kerzen redete. »Habt ihr das gehört? Er passt auf sich auf. Ich hab’s euch ja gesagt!«
Als die Tür zufiel, stürzten Nico und ich los. Die kleinen Knautschwesen am Straßenrand schienen uns anzugrinsen, als wir vorüberrannten.
Mrs O’Leary hatte inzwischen auf dem Felsen eine Freundin gefunden.
Ein gemütliches Lagerfeuer knisterte in einem Steinring. Ein Mädchen von vielleicht acht Jahren saß im Schneidersitz neben Mrs O’Leary und kraulte ihr die Ohren.
Sie hatte mausbraune Haare und trug ein schlichtes braunes Kleid. Mit ihrem Kopftuch sah sie aus wie das Kind von Siedlern – wie ein Geist aus »Unsere kleine Farm« oder so. Sie stocherte mit einem Stock im Feuer herum und es schien tiefer zu glühen als ein normales Feuer.
»Hallo«, sagte sie.
Mein erster Gedanke war: Monster. Wenn du ein Halbgott bist und mitten im Wald allein ein süßes kleines Mädchen vorfindest – dann ist das der passende Augenblick, dein Schwert zu ziehen und anzugreifen. Außerdem hatte die Begegnung mit Ms Castellan mich ganz schön fertiggemacht.
Aber Nico verbeugte sich vor der Kleinen.
»Schön, Euch wiederzusehen, hohe Dame.«
Sie musterte mich aus Augen, die so rot waren wie der Feuerschein. Ich hielt es für das Sicherste, mich zu verbeugen.
»Setz dich, Percy Jackson«, sagte sie. »Möchtest du etwas essen?«
Nach den verschimmelten Erdnussbutterbroten und verkokelten Plätzchen hatte ich nicht besonders viel Appetit, aber die Kleine winkte einmal kurz und neben dem Feuer tauchte ein Picknick auf. Es gab Teller voll Roastbeef, Ofenkartoffeln, gekochte Möhren, frisch gebackenes Brot und jede Menge andere Dinge, die ich schon ewig nicht mehr gegessen hatte. Mir knurrte der Magen. Das war genau die Art Hausmannskost, die eigentlich alle essen sollten, aber nie bekamen. Das Mädchen ließ vor Mrs O’Leary einen ein Meter fünfzig langen Hundekuchen auftauchen, und Mrs O’Leary fing glücklich an, ihn in Stücke zu reißen.
Ich setzte mich neben Nico. Wir nahmen uns etwas zu essen und ich wollte mich schon darüber hermachen, besann mich dann aber eines Besseren.
Ich kratzte einen Teil meiner Mahlzeit ins Feuer, so, wie wir das im Camp immer machen. »Für die Götter«, sagte ich.
Das kleine Mädchen lächelte. »Danke. Als Hüterin der Flammen bekomme ich einen Teil von jedem Opfer, weißt du?«
»Jetzt erkenne ich dich«, sagte ich. »Als ich zum ersten Mal im Camp war, hast du am Feuer gesessen, zwischen den Hütten.«
»Du bist nie stehen geblieben, um mit mir zu sprechen«, erinnerte das Mädchen sich. »Leider tut das außer Nico kaum jemand. Er war der Erste seit vielen Jahren. Alle anderen haben es immer eilig. Keine Zeit für Familienbesuche.«
»Du bist Hestia«, sagte ich. »Die Göttin des Herdes.«
Sie nickte.
Na gut … sie sah also aus, als wäre sie acht Jahre alt. Ich stellte keine Fragen. Ich wusste ja, dass Götter so aussehen können, wie sie wollen.
»Göttin«, sagte Nico. »Warum seid Ihr nicht bei den anderen Olympiern und kämpft gegen Typhon?«
»Ich bin keine große Kämpferin.« Ihre roten Augen flackerten und mir wurde klar, dass sie nicht nur die Flammen reflektierten. Sie waren selbst mit Flammen gefüllt – aber nicht wie die Augen des Ares. Hestias Augen waren warm und freundlich.
»Außerdem«, sagte sie, »muss irgendwer zu Hause das Herdfeuer am Brennen halten, während die anderen Götter unterwegs sind.«
»Ihr hütet also den Olymp?«, fragte ich.
»Hüten ist vielleicht übertrieben. Aber wenn du mal einen warmen Ort brauchst, um dich auszuruhen und echte Hausmannskost zu genießen, dann bist du willkommen. Und jetzt iss.«
Mein Teller war leer, ehe ich mich’s versah. Nicos Essen war ebenso rasch verschwunden.
»Das war wunderbar«, sagte ich. »Vielen Dank, Hestia.«
Sie nickte. »War das ein netter Besuch bei May Castellan?«
Für einen Moment hatte ich die alte Dame mit den leuchtenden Augen und dem wahnsinnigen Lächeln fast vergessen und auch, wie besessen sie plötzlich gewirkt hatte.
»Was ist eigentlich los mit ihr?«, fragte ich.
»Sie wurde mit einer Gabe geboren«, sagte Hestia. »Sie konnte durch den Nebel schauen.«