»Wie meine Mutter«, sagte ich. Und außerdem dachte ich, wie Rachel. »Aber diese Nummer mit den glühenden Augen …«
»Manche können den Fluch des Sehens besser ertragen als andere«, sagte die Göttin traurig. »Eine Zeitlang hatte May Castellan viele Gaben. Sie zog die Aufmerksamkeit des Hermes auf sich und sie bekamen einen wunderschönen kleinen Sohn. Für kurze Zeit war sie glücklich. Und dann ging sie zu weit.«
Mir fiel ein, was Ms Castellan gesagt hatte: Sie haben mir eine wichtige Stelle angeboten … das ging nicht gut. Ich fragte mich, was für ein Job wohl solche Auswirkungen haben konnte.
»Sie war glücklich«, sagte ich. »Und dann ist sie von einem Moment auf den anderen über das Schicksal ihres Sohnes durchgedreht. Als ob sie wüsste, dass er sich in Kronos verwandelt hat. Was ist passiert, um sie … so zu spalten?«
Das Gesicht der Göttin verdüsterte sich. »Das ist eine Geschichte, die ich nicht gern erzähle. Aber May Castellan sah zu viel. Wenn ihr euren Feind Luke verstehen wollt, müsst ihr seine Familie verstehen.«
Ich dachte an die traurigen Bildchen von Hermes, die über May Castellans Spülbecken klebten. Ich überlegte, ob Ms Castellan auch schon so verrückt gewesen war, als Luke noch klein war. Diese grünäugigen Anfälle mussten einem Neunjährigen schreckliche Angst gemacht haben. Und wenn Hermes nie zu Besuch gekommen war, wenn er Luke all die Jahre lang mit seiner Mom alleingelassen hatte …
»Kein Wunder, dass Luke weggelaufen ist«, sagte ich. »Ich meine, es war vielleicht nicht richtig, seine Mom einfach so zu verlassen, aber trotzdem – er war ja noch ein Kind. Hermes hätte sie nicht im Stich lassen dürfen.«
Hestia kratzte Mrs O’Leary hinter den Ohren. Der Höllenhund wedelte mit dem Schwarz und warf aus Versehen einen Baum um.
»Es ist leicht, andere zu verurteilen«, sagte Hestia mahnend. »Aber werdet ihr Luke auf seinem Weg folgen? Dieselbe Macht anstreben?«
Nico stellte seinen Teller hin. »Wir haben keine Wahl, Göttin. Nur so hat Percy eine Chance.«
»Hm.« Hestia öffnete die Hand und das Feuer loderte auf. Flammen schossen zehn Meter hoch in die Luft; die Hitze schlug mir ins Gesicht. Dann fiel das Feuer wieder auf normale Größe zusammen.
»Nicht jede Macht ist spektakulär.« Hestia sah mich an. »Manchmal ist die Kraft des Nachgebens jene Kraft, die am schwersten zu erlangen ist. Glaubst du mir?«
»Äh, klar«, sagte ich. Was immer sie wollte, wenn sie nur nicht wieder mit ihren Flammenkräften herumspielte.
Die Göttin lächelte. »Du bist ein guter Heros, Percy Jackson. Nicht zu stolz. Das gefällt mir. Aber du musst noch viel lernen. Als Dionysos zum Gott gemacht wurde, habe ich für ihn meinen Thron aufgegeben. Nur so ließ sich ein Krieg unter den Göttern verhindern.«
»Das hat den Rat aus dem Gleichgewicht gebracht«, fiel mir ein. »Plötzlich gab es sieben Typen und fünf Mädchen.«
Hestia zuckte mit den Schultern. »Es war die beste Lösung, keine perfekte. Jetzt hüte ich das Feuer. Ich verschwinde langsam im Hintergrund. Niemand wird je ein Epos über die Taten der Hestia verfassen. Die meisten Halbgötter nehmen sich nicht einmal die Zeit, mit mir zu reden. Aber das spielt keine Rolle. Ich bewahre den Frieden. Ich gebe nach, wenn es nötig ist. Wirst du es schaffen?«
»Ich weiß nicht, was Ihr meint.«
Sie sah mich forschend an. »Vielleicht noch nicht. Aber bald. Wirst du deinen Einsatz fortsetzen?«
»Seid Ihr deshalb gekommen – um mich davor zu warnen?«
Hestia schüttelte den Kopf. »Ich bin hier, weil ich das Letzte bin, was noch bleibt, wenn alles andere fehlschlägt, wenn alle mächtigen Götter in den Krieg gezogen sind. Ein Zuhause. Der Herd. Ich bin die letzte Göttin des Olymps. An mich musst du denken, wenn du vor der letzten Entscheidung stehst.«
Wie sie »letzte Entscheidung« sagte, gefiel mir gar nicht.
Ich sah Nico an, dann schaute ich wieder in Hestias warme glühende Augen. »Ich muss weitermachen, Göttin. Ich muss Luke aufhalten … ich meine, Kronos.«
Hestia nickte. »Na gut. Ich kann nicht viel helfen, außer indem ich dir dies hier erzählt habe. Aber da du mir ein Opfer gebracht hast, kann ich dich an deinen eigenen Herd zurückbringen. Ich werde dich wiedersehen, Percy, auf dem Olymp.«
Ihr Tonfall klang unheilverkündend, als werde unsere nächste Begegnung nicht glücklich ausfallen.
Die Göttin machte eine Handbewegung und alles verschwand.
Plötzlich war ich zu Hause. Nico und ich saßen in der Wohnung meine Mutter in der Upper East Side auf der Couch. Das war die gute Nachricht. Die schlechte war, dass der Rest des Wohnzimmers von Mrs O’Leary ausgefüllt war.
Ich hörte aus dem Schlafzimmer einen unterdrückten Schrei. Pauls Stimme fragte: »Wer hat diese Fellwand in die Tür geklemmt?«
»Percy?«, rief meine Mom. »Bist du da? Ist alles in Ordnung bei dir?«
»Ich bin hier!«, brüllte ich zurück.
»WUFF!« Mrs O’Leary versuchte, sich im Kreis zu drehen, um Mom zu finden, und dabei warf sie alle Bilder von der Wand. Sie war meiner Mom erst einmal begegnet (lange Geschichte), aber sie liebte sie heiß und innig.
Es dauerte einige Minuten, aber irgendwann konnten wir die Lage klären. Nachdem wir fast alle Möbel im Wohnzimmer ruiniert und unsere Nachbarn vermutlich ziemlich wütend gemacht hatten, konnten wir meine Eltern aus dem Schlafzimmer und in die Küche bugsieren, wo wir uns an den Küchentisch setzten. Mrs O’Leary füllte noch immer das gesamte Wohnzimmer aus, aber ihr Kopf lag jetzt in der Küchentür und sie konnte uns sehen, was sie sehr glücklich machte. Meine Mom warf ihr eine Riesen-Familienpackung Hackfleisch zu, die sofort verschwunden war. Paul schenkte uns Limonade ein, während ich von unserem Besuch in Connecticut berichtete.
»Dann stimmt es also.« Paul starrte mich an, als ob er mich noch nie gesehen hätte. Er trug seinen weißen Bademantel, der jetzt mit Höllenhundehaaren übersät war, und seine grau melierten Haare standen zu allen Seiten ab. »Dieses ganze Gerede über Monster und dass du ein Halbgott bist … das stimmt also wirklich.«
Ich nickte. Im vergangenen Herbst hatte ich Paul erklärt, wer ich war, und meine Mom hatte es bestätigt. Aber bis zu diesem Moment hatte er uns wohl doch nicht so ganz geglaubt.
»Das mit Mrs O’Leary tut mir leid«, sagte ich. »Dass sie das Wohnzimmer verwüstet hat und so.«
Paul lachte entzückt. »Machst du Witze? Das ist großartig! Ich meine, als ich die Hufspuren und den Prius gesehen habe, dachte ich, na, vielleicht stimmt es ja doch. Aber das hier!«
Er streichelte Mrs O’Learys Schnauze. Das Wohnzimmer bebte – BUMM, BUMM, BUMM –, und das bedeutete entweder, dass ein Überfallkommando die Tür aufbrach oder dass Mrs O’Leary mit dem Schwanz wedelte.
Ich musste lächeln. Paul war ganz schön cool, auch wenn er mein Englischlehrer und noch dazu mein Stiefvater war.
»Danke, dass du nicht ausrastest«, sagte ich.
»Ich raste sehr wohl aus!«, erklärte er und machte große Augen. »Ich finde das nämlich umwerfend!«
»Na ja«, sagte ich. »Vielleicht bist du nicht mehr ganz so begeistert, wenn du hörst, was passiert ist.«
Ich erzählte Paul und meiner Mom von Typhon und den Göttern und der Schlacht, die uns bevorstand. Und ich erzählte ihnen von Nicos Plan.
Meine Mom verschränkte ihre Finger um das Limonadenglas. Sie trug ihren alten blauen Flanellbademantel und hatte die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Seit kurzem schrieb sie an einem Roman; das hatte sie seit Jahren vorgehabt, und ich wusste, dass sie bis spät in die Nacht hinein gearbeitet hatte, denn die Ringe um ihre Augen waren dunkler als sonst.
Hinter ihr im Küchenfenster leuchtete silbernes Mondgewebe im Blumenkasten. Ich hatte diese magische Pflanze im vergangenen Sommer von Kalypsos Insel mitgebracht, und unter der Pflege meiner Mutter blühte sie wie verrückt. Der Duft beruhigte mich immer, machte mich aber auch traurig, weil er mich an verlorene Freundinnen und Freunde erinnerte.