Meine Mom holte tief Luft, als ob sie mir die Sache verbieten wollte.
»Percy, das ist gefährlich«, sagte sie. »Sogar für dich.«
»Mom, das weiß ich. Ich könnte dabei umkommen. Das hat mir Nico auch erklärt. Aber wenn wir es nicht versuchen …«
»Dann sterben wir alle«, sagte Nico. Er hatte seine Limonade nicht angerührt. »Ms Jackson, gegen eine Invasion haben wir keine Chance. Und die Invasion wird kommen.«
»Eine Invasion von New York?«, fragte Paul. »Geht das denn überhaupt? Wie ist es möglich, dass wir die … die Monster nicht sehen?«
Er sprach das Wort aus, als ob er noch immer nicht glauben könnte, dass das hier die Wirklichkeit war.
»Ich weiß nicht«, gab ich zu. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kronos einfach in Manhattan einmarschiert, aber der Nebel ist sehr dicht. Typhon stampft gerade durch das ganze Land und die Sterblichen halten ihn für ein Sturmtief.«
»Ms Jackson«, sagte Nico. »Percy braucht Ihren Segen. Das ist der erste Schritt in diesem Prozess. Ich war nicht sicher, bis wir bei Lukes Mutter waren, aber jetzt bin ich davon überzeugt. Es ist bisher erst zweimal geglückt. Beide Male musste die Mutter ihren Segen geben. Sie musste ihren Sohn das Risiko eingehen lassen.«
»Ich soll das hier segnen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist Wahnsinn. Percy, bitte …«
»Mom, ohne dich kann ich das nicht.«
»Und wenn du diesen … diesen Prozess überlebst?«
»Dann ziehe ich in den Krieg«, sagte ich. »Ich gegen Kronos. Und nur einer von uns wird überleben.«
Ich sagte ihr nicht die ganze Weissagung – über die Seele, die gefällt wurde, und das Ende meiner Tage. Sie brauchte nicht zu wissen, dass ich so gut wie verloren war. Ich konnte nur noch hoffen, dass ich vor meinem Tod Kronos aufhalten und den Rest der Welt retten würde.
»Du bist mein Sohn«, sagte sie verzweifelt. »Ich kann doch nicht so einfach …«
Ich wusste, ich würde ihr härter zusetzen müssen, damit sie ihre Zustimmung gab, aber das wollte ich nicht. Ich dachte an die arme Ms Castellan in ihrer Küche, die auf die Heimkehr ihres Sohnes wartete. Und mir ging auf, was für ein Glück ich hatte. Meine Mom war immer für mich da gewesen, hatte immer versucht, mir ein normales Leben zu ermöglichen, trotz Göttern und Monstern und allem. Sie hatte sich damit abgefunden, dass ich ständig auf Abenteuer auszog, aber jetzt wollte ich ihren Segen für eine Unternehmung, die vermutlich meinen Tod bedeuten würde.
Ich wechselte einen Blick mit Paul und zwischen uns gab es eine Art Einverständnis.
»Sally.« Er legte seine Hand auf die Hände meiner Mutter. »Ich kann nicht behaupten, ich wüsste, was du und Percy in all diesen Jahren durchgemacht habt. Aber für mich klingt es so … es klingt so, als ob Percy eine edle Tat vollbringen will. Ich wünschte, ich hätte solchen Mut.«
Ich verspürte einen Kloß im Hals. Solche Komplimente bekam ich nicht sehr oft.
Meine Mom starrte ihre Limonade an. Sie sah aus, als ob sie sich bemühte, nicht zu weinen. Ich dachte daran, was Hestia gesagt hatte, wie hart es ist nachzugeben, und stellte mir vor, dass meine Mom das jetzt vielleicht gerade erlebte.
»Percy«, sagte sie. »Ich gebe dir meinen Segen.«
Ich fühlte mich absolut nicht anders. Kein magisches Glühen in der Küche oder so.
Ich schaute zu Nico hinüber.
Der sah besorgter aus denn je, aber er nickte. »Es ist Zeit.«
»Percy«, sagte meine Mom. »Eine Sache noch. Wenn du … wenn du diesen Kampf mit Kronos überlebst, schick mir ein Zeichen.« Sie wühlte in ihrer Handtasche und reichte mir ihr Handy.
»Mom«, sagte ich. »Du weißt doch, Halbgötter und Telefone …«
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber für alle Fälle. Und wenn du nicht anrufen kannst … dann schick vielleicht ein Zeichen, das ich von überall in Manhattan sehen kann. Damit ich weiß, dass es dir gut geht.«
»Wie Theseus«, schlug Paul vor. »Der sollte bei seiner Heimkehr nach Athen weiße Segel hissen.«
»Nur hat er das vergessen«, murmelte Nico. »Und sein Vater stürzte sich vor Verzweiflung vom Dach seines Palastes. Aber davon abgesehen war es eine gute Idee.«
»Wie wäre es mit einer Flagge oder einem Leuchtsignal?«, schlug meine Mom vor. »Vom Olymp – dem Empire State Building.«
»Etwas Blaues«, sagte ich.
Wir hatten seit Jahren diese Tradition mit blauem Essen. Blau war meine Lieblingsfarbe und Mom gab sich alle Mühe, mir die Freude zu machen. Jedes Jahr mussten mein Geburtstagskuchen, mein Osternest, meine Weihnachtszuckerstangen eben blau sein.
»Ja«, stimmte meine Mom zu. »Ich werde auf ein blaues Signal warten. Und ich werde versuchen, nicht von Palastdächern zu springen.«
Sie umarmte mich ein letztes Mal. Ich versuchte, mich nicht zu fühlen wie bei einem Abschied für immer. Ich schüttelte Paul die Hand. Dann gingen Nico und ich zur Küchentür und schauten Mrs O’Leary an.
»Tut mir leid, altes Mädchen«, sagte ich. »Zeit für die nächste Schattenreise.«
Sie fiepte und legte sich die Pfoten über die Schnauze.
»Wohin jetzt?«, fragte ich Nico. »Los Angeles?«
»Nicht nötig«, sagte er. »Es gibt einen näheren Eingang in die Unterwelt.«
Meine Mathelehrerin spielt mit mir Skilift
Wir kamen im Central Park gleich nördlich des Sees wieder heraus. Mrs O’Leary sah ganz schön müde aus, als sie zu einem Haufen von Steinquadern humpelte. Sie fing an umherzuschnüffeln, und ich fürchtete schon, sie wolle ihr Revier markieren, aber Nico sagte: »Ist schon gut. Sie riecht nur den Weg nach Hause.«
Ich runzelte die Stirn.
»Durch die Steine?«
»Die Unterwelt hat zwei Haupteingänge«, sagte Nico. »Den in L. A. kennst du ja.«
»Charons Fähre.«
Nico nickte.
»Die meisten Seelen nehmen diesen Weg, aber es gibt noch einen schmaleren Eingang, der ist schwerer zu finden. Die Tür des Orpheus.«
»Der Typ mit der Harfe.«
»Der Typ mit der Leier«, korrigierte Nico. »Aber ja, den meine ich. Er hat mit seiner Musik die Erde geöffnet und einen neuen Weg in die Unterwelt geschaffen. Er hat sich bis in den Palast des Hades durchgesungen und wäre fast mit der Seele seiner Frau entkommen.«
Ich erinnerte mich an die Geschichte. Orpheus durfte sich nicht umschauen, als er seine Frau zurück in die Welt führte, aber das tat er natürlich. Es war eine von den typischen »Und dann sind sie gestorben, Schluss, aus«-Geschichten, bei denen uns Halbgöttern immer ganz komisch wurde.
»Das ist also die Tür des Orpheus.« Ich versuchte, beeindruckt zu klingen, aber für mich sah sie noch immer aus wie ein Steinhaufen. »Und wie kriegt man die auf?«
»Wir brauchen Musik«, sagte Nico. »Bist du ein guter Sänger?«
»Äh, nein. Kannst du nicht einfach sagen, dass die Tür aufgehen soll? Du bist doch der Sohn des Hades und überhaupt.«
»So einfach ist das nicht. Wir brauchen Musik.«
Ich war ziemlich sicher, wenn ich zu singen versuchte, würde ich nur eine Lawine auslösen.
»Ich weiß was Besseres.« Ich drehte mich um und rief: »GROVER!«
Wir warteten lange. Mrs O’Leary rollte sich zusammen und machte ein Nickerchen. Ich konnte die Grillen im Wald und den Schrei einer Eule hören. Der Verkehr dröhnte am Central Park entlang. Pferdehufe klapperten über einen Weg in der Nähe, vielleicht eine berittene Polizeistreife. Ich war sicher, die würden es toll finden, auf zwei Jungen zu stoßen, die um ein Uhr nachts im Park herumlungerten.
»Das hier bringt nichts«, sagte Nico schließlich.
Aber ich hatte so ein Gefühl. Mein Empathielink prickelte zum ersten Mal seit Monaten, was entweder bedeutete, dass jede Menge Leute plötzlich den Naturkanal eingeschaltet hatten oder dass Grover in der Nähe war.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Grover!
Ich wusste, er war irgendwo im Park. Warum konnte ich seine Gefühle nicht spüren? Ich merkte nur ein vages Brummen ganz unten im Schädel.