Grover, dachte ich noch intensiver.
Hmmm-hmmm, sagte etwas.
Ein Bild tauchte in meinem Kopf auf. Ich sah eine riesige Ulme tief im Wald, weit weg von den Hauptwegen. Knorrige Wurzeln zogen sich über den Boden und bildeten dort eine Art Bett. Darin lag, mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen, ein Satyr. Zuerst war ich nicht sicher, ob es Grover war. Er war von Zweigen und Blättern bedeckt, als ob er schon lange dort schliefe. Die Wurzeln schienen sich um ihn zu ranken und ihn langsam in den Boden zu ziehen.
Grover, sagte ich. Aufwachen.
Unnn – zzzzz.
Dussel, du bist voller Dreck. Aufwachen!
Müde, murmelten seine Gedanken.
ESSEN, schlug ich vor. PFANNKUCHEN!
Er riss die Augen auf. Ein Gewirr von Gedanken füllte meinen Kopf, als ob er plötzlich vorspulte. Das Bild zersprang und ich wäre fast hingefallen.
»Was ist passiert?«, fragte Nico.
»Ich bin durchgekommen. Er ist … Er ist unterwegs.«
Eine Minute darauf zitterte der Baum neben uns. Grover fiel aus den Zweigen und voll auf seinen Kopf.
»Grover!«, rief ich.
»WUFF!« Mrs O’Leary schaute auf und fragte sich vermutlich, ob sie den Satyr apportieren sollte.
»Mä-häh-häh!«, blökte Grover.
»Alles klar bei dir, Mann?«
»Klar. Mir geht’s gut.« Er rieb sich den Kopf. Seine Hörner waren so groß geworden, dass sie einen Fingerbreit aus seinen Locken herausragten. »Ich war am anderen Ende des Parks. Die Dryaden hatten die geniale Idee, mich von Baum zu Baum zu werfen, um mich herzuschaffen. Sie haben keine besonders klare Vorstellung von Höhe.«
Er grinste und kam auf die Füße – na ja, auf die Hufe. Seit dem vergangenen Sommer verkleidete Grover sich nicht mehr als Mensch. Er trug nie mehr eine Mütze oder Fußattrappen. Er trug nicht einmal mehr Jeans, da er bepelzte Ziegenbeine besaß. Auf seinem T-Shirt war ein Bild aus dem Buch »Wo die wilden Kerle wohnen« und es war mit Erde und Baumsäften bedeckt. Sein Ziegenbart sah voller aus, fast männlich (oder böcklich?), und er war jetzt so groß wie ich.
»Schön, dich zu sehen, G-Man«, sagte ich. »Du erinnerst dich doch an Nico?«
Grover nickte zu Nico hinüber, dann riss er mich an sich. Er duftete wie frisch gemähter Rasen.
»Perrrrcy«, blökte er. »Du hast mir gefehlt! Das Camp hat mir gefehlt! In der Wildnis gibt es keine besonders guten Enchiladas.«
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagte ich. »Wo hast du die letzten beiden Monate gesteckt?«
»Die letzten beiden …« Grovers Lächeln verschwand. »Die letzten beiden Monate? Worüber redest du eigentlich?«
»Wir haben nichts von dir gehört«, sagte ich. »Wacholder macht sich Sorgen. Wir haben Irisbotschaften geschickt, aber …«
»Moment mal.« Er schaute zu den Sternen hoch, wie um seine Position zu bestimmen. »Welcher Monat ist jetzt?«
»August.«
Die Farbe wich aus seinem Gesicht. »Das kann nicht sein. Es ist Juni. Ich wollte nur kurz ein Nickerchen machen und …« Er packte meine Arme. »Jetzt weiß ich es wieder. Er hat mich k. o. geschlagen! Percy, wir müssen ihn aufhalten!«
»Moment mal«, sagte ich. »Langsam. Sag mir, was passiert ist.«
Er holte tief Luft. »Ich war … ich war im Wald oben beim Harlem Meer. Und ich spürte ein Zittern im Boden, als ob etwas Mächtiges sich näherte.«
»Sowas kannst du spüren?«, fragte Nico.
Grover nickte. »Seit Pan tot ist, kann ich spüren, wenn in der Natur etwas nicht stimmt. So, als ob meine Ohren und Augen in der Wildnis schärfer wären. Jedenfalls bin ich der Fährte gefolgt. Und da ging ein Mann in einem langen schwarzen Mantel durch den Park und ich sah, dass er keinen Schatten hatte. Es war mitten an einem sonnigen Tag und er hatte keinen Schatten. Er schimmerte irgendwie, wenn er sich bewegte.«
»Wie eine Luftspiegelung?«, fragte Nico.
»Ja«, sagte Grover. »Und wenn er an Menschen vorbeikam …«
»Dann fielen sie in Ohnmacht«, sagte Nico. »Rollten sich zusammen und schliefen ein.«
»Genau. Und wenn er wieder weg war, standen sie auf und machten weiter mit ihrer Arbeit, als ob nichts passiert wäre.«
Ich starrte Nico an. »Du kennst diesen Kerl in Schwarz?«
»Ich fürchte ja«, sagte Nico. »Grover, was ist dann passiert?«
»Ich ging hinter dem Typen her. Er schaute zu den Gebäuden um den Park hoch, als ob er sie taxierte oder so. Dann kam eine Joggerin vorbei, und sie rollte sich auf dem Bürgersteig zusammen und schnarchte los. Der Typ in Schwarz legte ihr die Hand auf die Stirn, wie um ihre Temperatur zu fühlen. Dann ging er weiter. Inzwischen wusste ich ja, dass er ein Monster oder etwas noch Schlimmeres war. Ich folgte ihm in dieses Wäldchen bis zu einer riesigen Ulme. Ich wollte ein paar Dryaden rufen, um ihn zu fangen, aber dann drehte er sich um und …«
Grover schluckte. »Percy, sein Gesicht. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil es sich dauernd änderte. Bei seinem bloßen Anblick wurde ich schon schläfrig. Ich fragte: ›Was machst du hier?‹ Er sagte: ›Ich schau mich nur um. Man sollte sich ein Schlachtfeld vor der Schlacht immer genau ansehen.‹ Ich antwortete etwas ganz Geniales, wie: ›Dieser Wald steht unter meinem Schutz. Hier fängst du keine Schlacht an!‹ Und er lachte. Er sagte: ›Du hast Glück, dass ich meine Energie für die Hauptoffensive aufspare, Satyrchen. Ich verpasse dir einfach nur ein Nickerchen. Schöne Träume.‹ Und an mehr erinnere ich mich nicht.«
Nico stieß die Luft aus. »Grover, dir ist Morpheus begegnet, der Gott der Träume. Du hast Glück, dass du überhaupt wieder aufgewacht bist.«
»Zwei Monate«, stöhnte Grover. »Er hat mich zwei Monate lang schlafen lassen.«
Ich versuchte, zu begreifen, was das bedeutete. Jetzt war mir klar, warum wir Grover in dieser ganzen Zeit nicht erreicht hatten.
»Warum haben die Nymphen nicht versucht, dich zu wecken?«, fragte ich.
Grover zuckte mit den Schultern. »Die meisten Nymphen haben keinen richtigen Zeitbegriff. Zwei Monate – das ist nichts für einen Baum. Sie sind wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen, dass etwas nicht stimmen könnte.«
»Wir müssen herausfinden, was Morpheus hier im Park macht«, sagte ich. »Das mit dieser Hauptoffensive, die er erwähnt hat, gefällt mir nicht.«
»Er arbeitet für Kronos«, sagte Nico. »Das wissen wir schon. Viele von den zweitrangigen Göttern tun das. Es beweist nur, dass eine Invasion bevorsteht. Percy, wir müssen mit unserem Plan weitermachen.«
»Moment«, sagte Grover. »Was für ein Plan?«
Wir erzählten es ihm und Grover fing an, am Fell seines Beines herumzuzupfen.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte er. »Nicht schon wieder die Unterwelt.«
»Ich bitte dich ja nicht, mitzukommen, Mann«, sagte ich. »Ich weiß, dass du gerade erst aufgewacht bist. Aber wir brauchen Musik, um diese Tür zu öffnen. Kannst du das übernehmen?«
Grover zog seine Rohrflöte hervor. »Ich kann es ja mal versuchen. Ich kenne ein paar Nirvana-Stücke, die tatsächlich Felsen spalten könnten. Aber Percy, bist du wirklich sicher, dass du das willst?«
»Bitte«, sagte ich. »Es wäre so wichtig. Um der alten Zeiten willen?«
Er jammerte. »Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, dann sind wir in den alten Zeiten ganz schön oft fast gestorben. Aber okay, los geht’s.«
Er lege die Flöte an die Lippen und spielte ein schrilles, lebhaftes Stück. Die Quader zitterten. Noch einige Melodiefolgen und sie brachen auseinander und legten eine dreieckige Kluft frei.
Ich lugte hinein. Stufen führten in die Finsternis. Die Luft roch nach Schimmel und Tod. Das weckte böse Erinnerungen an das vergangene Jahr und meine Wanderung durch das Labyrinth, aber dieser Tunnel kam mir noch gefährlicher vor. Er führte geradewegs ins Reich des Hades, und das war fast immer eine Reise ohne Rückfahrkarte.