»Ihr seid doch verrückt«, sagte ich. »Kronos wird Euch zerschmettern, sobald er den Olymp zu Klump gehauen hat.«
Hades machte eine unbestimmte Handbewegung. »Na, du wirst es ja erleben, Halbblut. Denn du wirst diesen Krieg in meinen Kerkern aussitzen.«
»Nein!«, rief Nico. »Vater, das hatten wir nicht abgemacht. Und du hast mir noch nicht alles gesagt.«
»Ich habe dir alles gesagt, was du wissen musst«, sagte Hades. »Und was unsere Abmachung angeht, ich habe mit Jackson gesprochen. Ich habe ihm nichts getan. Du hast deine Information bekommen. Wenn du ein besseres Geschäft gewollt hättest, hättest du mich beim Styx schwören lassen müssen. Und jetzt geh auf dein Zimmer!« Er winkte kurz und Nico war verschwunden.
»Dieser Junge muss mehr essen«, knurrte Demeter. »Er ist zu mager. Er braucht mehr Müsli.«
Persephone verdrehte die Augen. »Mutter, hör auf mit deinem Müsli. Mein Hades, bist du sicher, dass wir diesen kleinen Helden nicht einfach laufen lassen können? Er ist so ungeheuer tapfer.«
»Nein, meine Liebe. Ich habe ihn am Leben gelassen. Das reicht.«
Ich war sicher, dass sie sich weiter für mich einsetzen würde. Die tapfere schöne Persephone würde mich retten.
Doch sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Von mir aus. Was gibt es zum Frühstück? Ich bin kurz vor dem Verhungern.«
»Müsli«, sagte Demeter.
»Mutter!« Die beiden Frauen verschwanden in einem Wirbel aus Blumen und Weizen.
»Mach dir nichts draus, Percy Jackson«, sagte Hades. »Meine Geister halten mich über Kronos’ Pläne auf dem Laufenden. Ich kann dir versichern, dass du keine Chance gehabt hättest, ihn rechtzeitig aufzuhalten. Heute Nacht wird es für deinen kostbaren Olymp zu spät sein. Dann wird die Falle zuschnappen.«
»Welche Falle?«, fragte ich. »Wenn Ihr Bescheid wisst, müsst Ihr etwas unternehmen! Lasst mich wenigstens den anderen Göttern Bescheid sagen!«
Hades lächelte. »Du hast wirklich Mut, das muss ich dir lassen. Amüsier dich in meinen Kerkern. Wir werden in, sagen wir, fünfzig oder sechzig Jahren nach dir sehen.«
Ich nehme das schlimmste Bad aller Zeiten
Mein Schwert war wieder in meiner Tasche.
Tolles Timing. Jetzt konnte ich nach Herzenslust die Wände angreifen. Meine Zelle hatte keine Gitter, keine Fenster, nicht einmal eine Tür. Die Skelettwachen schoben mich einfach durch eine Mauer, und die wurde hinter mir wieder fest. Ich war nicht sicher, ob überhaupt irgendwo Luft in die Zelle kam. Vermutlich nicht. Hades’ Kerker waren für Tote bestimmt, und Tote atmen nicht. Also konnte ich das mit den fünfzig oder sechzig Jahren auch vergessen; ich würde in fünfzig oder sechzig Minuten tot sein. Und wenn Hades nicht gelogen hatte, würde in New York gegen Abend eine riesige Falle zuschnappen, und es gab rein gar nichts, was ich dagegen tun könnte.
Ich setzte mich auf den kalten Steinboden und fühlte mich einfach elend.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich eingenickt bin, aber es war schließlich schon gegen sieben Uhr morgens, Sterblichenzeit, und ich hatte ganz schön was durchgemacht.
Ich träumte, dass ich auf der Veranda von Rachels Strandhaus in St. Thomas saß. Die Sonne ging über der Karibik auf. Das Meer war von Dutzenden von bewaldeten Inseln betupft und weiße Segel durchschnitten das Wasser. Als ich die salzige Luft roch, fragte ich mich, ob ich den Ozean wohl jemals wiedersehen würde.
Rachels Eltern saßen am Tisch, während ihr persönlicher Koch ihnen Omelettes zubereitete. Mr Dare trug einen weißen Leinenanzug und las das Wall Street Journal. Die Dame ihm gegenüber war vermutlich Mrs Dare, aber von ihr konnte ich nur schockrosa Fingernägel und den Umschlag ihres exklusiven Reisemagazins sehen. Warum sie über Urlaub las, während sie Urlaub machte, wusste ich nicht.
Rachel stand am Verandageländer und seufzte. Sie trug Bermudashorts und ihr Van-Gogh-T-Shirt. (Klar, Rachel hatte versucht, mir so allerlei über Kunst beizubringen, aber ihr braucht gar nicht erst beeindruckt zu tun. Ich konnte mich nur an den Namen dieses Typen erinnern, weil er sich das Ohr abgeschnitten hatte.)
Ich fragte mich, ob sie wohl an mich dachte und ob sie es sehr schade fand, dass ich nicht mitgekommen war. Ich weiß, dass zumindest ich das sehr schade fand.
Dann änderte sich die Szene. Ich war in St. Louis und stand unten in der Stadt unter dem Brückenbogen. Ich war schon einmal dort gewesen. Genauer gesagt war ich dort mal fast zu Tode gestürzt.
Über der Stadt tobte ein Gewitter – ich sah eine Wand aus tiefem Schwarz mit Blitzen, die den Himmel zerfetzten. Einige Blocks weiter sammelten sich jede Menge Feuerwehrwagen mit blinkendem Blaulicht. Eine Staubsäule stieg von einem Schutthaufen auf, in dem ich einen eingestürzten Wolkenkratzer erkannte.
Eine Reporterin, die in meiner Nähe stand, schrie in ihr Mikrofon: »Von Behördenseite wird das als Statikproblem bezeichnet, Dan, aber niemand scheint zu wissen, ob der Sturm etwas damit zu tun hat.«
Wind riss an ihren Haaren. Die Temperatur sank rasch, um mindestens zehn Grad, nur seit ich hier stand.
»Zum Glück war das Gebäude leer und sollte abgerissen werden«, sagte sie. »Die Polizei hat alle Häuser in der Nähe evakuiert, aus Angst, der Einsturz könnte zu weiteren …«
Sie kam ins Stocken, als ein gewaltiges Knurren den Himmel zu zerreißen schien. Ein greller Blitz traf den Mittelpunkt der Finsternis und die gesamte Stadt bebte. Die Luft glühte und jedes Haar an meinem Körper sträubte sich. Der Blitzschlag war so mächtig gewesen, dass es nur eine Erklärung gab: Es war Zeus’ Herrscherblitz. Er hätte sein Ziel eigentlich zu Staub zerfallen lassen müssen, aber die dunkle Wolke zog sich nur zuckend zurück. Eine von Rauch umwaberte Faust tauchte aus den Wolken auf. Sie zerschlug noch einen Turm und das Ding fiel in sich zusammen wie etwas, das Kinder mit einem Baukasten errichtet haben.
Die Reporterin schrie auf. Menschen rannten durch die Straßen. Blaulicht flackerte. Ich sah einen silbernen Streifen am Himmel – ein von Rentieren gezogener Wagen, aber der wurde nicht vom Weihnachtsmann gelenkt, sondern von Artemis, die auf dem Sturm ritt und Mondlichtpfeile in die Dunkelheit abgab. Ein feuriger goldener Komet kreuzte ihren Weg … vielleicht ihr Bruder Apollo.
Eins stand fest: Typhon hatte den Mississippi erreicht. Er hatte die halben USA durchkreuzt und eine Schneise der Zerstörung geschlagen, und die Götter konnten seinen Vormarsch höchstens verlangsamen.
Der Berg aus Finsternis ragte über mir auf. Gerade drohte mich ein Fuß von der Größe des Yankee-Stadions zu zertreten, als eine Stimme zischte: »Percy!«
Ich schlug blindlings zu. Noch ehe ich richtig zu mir gekommen war, presste ich Nico schon mit der Schwertspitze an der Kehle auf den Zellenboden.
»Will … dich … retten«, würgte er heraus.
Vor Wut war ich ganz schnell wach. »Ach ja? Und warum sollte ich dir vertrauen?«
»Keine … Wahl?«, presste er hervor.
Ich wünschte, er hätte nicht so etwas absolut Logisches gesagt. Ich ließ ihn los.
Nico rollte sich zu einem Ball zusammen und würgte lauthals, während sein Hals sich erholte. Endlich stand er auf und musterte misstrauisch mein Schwert. Seine eigene Klinge steckte in der Scheide. Ich nahm an, wenn er mich hätte umbringen wollen, hätte er das erledigen können, als ich noch schlief. Aber ich hatte trotzdem kein Vertrauen zu ihm.
»Wir müssen raus hier«, sagte er.
»Warum?«, fragte ich. »Möchte dein Dad noch mal mit mir reden?«
Er wand sich. »Percy, ich schwöre beim Styx, ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte.«
»Du kennst doch deinen Dad!«
»Er hat mich ausgetrickst. Er hatte versprochen …« Nico hob die Hände. »Hör mal … zuerst müssen wir weg hier. Ich hab den Wachen ein Schlafmittel gegeben, aber die Wirkung wird nicht von Dauer sein.«