Vor dem Fahrstuhl auf Deck 8 rutschten zwei Dracaenae vor mir vorbei. Von der Hüfte aufwärts waren sie Frauen mit grüner Schuppenhaut, gelben Augen und gespaltenen Zungen; von der Hüfte abwärts hatten sie doppelte Schlangenleiber anstelle von Beinen. Sie hatten Speere und mit Gewichten beschwerte Netze bei sich, und ich wusste aus Erfahrung, dass sie damit umgehen konnten.
»Wasssss isssst dasss?«, fragte die eine. »Ein Preisssss für Kronossss.«
Ich war nicht in der Stimmung für Schlangenbeschwörung, aber vor mir war ein Sockel mit einem Modell des Schiffs, von der Sorte »Sie befinden sich hier«. Ich riss das Ding vom Sockel und schleuderte es auf eine Dracaena. Das Boot traf sie im Gesicht, und sie ging zu Boden. Ich sprang über sie hinüber, schnappte mir den Speer ihrer Freundin und schwang sie im Kreis. Sie knallte in den Fahrstuhl, und ich rannte weiter zum Bug des Schiffes.
»Haltet ihn!«, schrie sie. Höllenhunde bellten. Von irgendwoher pfiff ein Pfeil an meinem Gesicht vorbei und blieb in der Wand des Treppenhauses stecken.
Mir war das egal – solange ich nur die Monster vom Maschinenraum weghalten und Beckendorf mehr Zeit geben konnte.
Als ich die Treppe hochrannte, kam mir ein Junge entgegen. Er sah aus wie gerade aufgewacht und hatte seine Rüstung nur zur Hälfte angelegt. Als er sein Schwert zog und »Kronos« schrie, hörte er sich eher verängstigt als zornig an. Er konnte nicht älter als zwölf sein – ungefähr so alt wie ich bei meiner Ankunft im Camp Half-Blood.
Dieser Gedanke stimmte mich traurig. Der Kleine hatte eine Gehirnwäsche hinter sich – ihm war eingeredet worden, dass er die Götter hasste und bekämpfen musste, nur weil er ein halber Olympier war. Kronos nutzte ihn nur aus, und doch hielt der Kleine mich für seinen Feind.
Ich wollte ihn nicht verletzen und gegen ihn brauchte ich keine Waffe. Ich sprang vor ihn und packte seine Handgelenke, dann presste ich ihn gegen die Wand. Klappernd fiel ihm das Schwert aus der Hand.
Was ich danach tat, hatte ich nicht geplant. Es war wahrscheinlich dumm von mir. Auf jeden Fall brachte es unsere Mission in Gefahr, aber ich konnte mich nicht beherrschen.
»Wenn du überleben willst«, sagte ich zu ihm, »dann verlass sofort das Schiff. Und sag den anderen Halbgöttern auch Bescheid.« Dann stieß ich ihn die Treppe hinunter und er landete ein Geschoss tiefer.
Ich lief weiter aufwärts.
Böse Erinnerungen: An der Cafeteria führte eine Galerie entlang. Annabeth, mein Halbbruder Tyson und ich hatten uns drei Jahre zuvor bei meinem ersten Besuch hier vorbeigeschlichen.
Ich stürzte auf das Hauptdeck hinaus. Vor dem Bug verfärbte sich der Himmel backbords von Lila zu Schwarz. Das gesamte Schiff wirkte gespenstisch verlassen.
Ich brauchte nur auf die andere Seite zu gehen. Dann könnte ich die Treppe zum Hubschrauberlandeplatz hinunterlaufen – unserem Treffpunkt für den Notfall. Mit etwas Glück würde Beckendorf dort zu mir stoßen. Wir würden ins Meer springen. Meine Macht über das Wasser würde uns beide schützen und aus einer Entfernung von dreihundert Metern würden wir die Sprengladung hochgehen lassen.
Ich hatte bereits das halbe Deck hinter mich gebracht, als der Klang einer Stimme mich erstarren ließ. »Du bist spät dran, Percy.«
Luke stand über mir auf dem Balkon, ein Lächeln auf seinem narbigen Gesicht. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt und Flipflops, wie ein ganz normaler Collegestudent, aber seine Augen verrieten die Wahrheit. Sie waren aus massivem Gold.
»Wir warten schon seit Tagen auf dich.« Zuerst klang er ganz normal, wie Luke eben. Aber dann verzerrte sich sein Gesicht. Ein Zittern durchlief seinen Körper, als ob er gerade etwas wirklich Grauenvolles getrunken hätte. Seine Stimme wurde tiefer, uralt und mächtig – die Stimme des Titanenherrschers Kronos. Was er sagte, schrappte wie eine Messerklinge über mein Rückgrat. »Na los, verbeuge dich vor mir.«
»Das hättest du wohl gern«, knurrte ich.
Laistrygonische Riesen zogen auf der anderen Seite des Schwimmbades auf, als hätten sie nur auf ein Stichwort gewartet. Jeder war zwei Meter fünfzig groß und hatte tätowierte Arme, eine Lederrüstung und eine Stachelkeule. Über Luke auf dem Dach erschienen Halbgötter mit Bögen. Zwei Höllenhunde sprangen vom gegenüberliegenden Balkon und bleckten vor mir die Zähne. In Sekundenschnelle war ich umstellt. Das war eine Falle: Niemals hätten sie so schnell in Stellung gehen können, wenn sie nicht gewusst hätten, dass ich kommen würde. Ich schaute zu Luke hoch und in mir kochte die Wut. Ich wusste nicht, ob Lukes Bewusstsein in diesem Körper überhaupt noch am Leben war. Vielleicht schon, so wie seine Stimme sich verändert hatte … aber vielleicht lag das nur daran, dass Kronos sich seiner neuen Gestalt anpasste. Ich sagte mir, dass das keine Rolle spielte. Luke war schon lange, ehe Kronos von ihm Besitz ergriffen hatte, verkorkst und böse gewesen.
Eine Stimme in meinem Kopf sagte: Irgendwann muss ich sowieso gegen ihn kämpfen. Also warum nicht jetzt?
Der Großen Weissagung zufolge würde ich mit sechzehn eine Entscheidung treffen müssen, die die Welt retten oder zerstören würde. Das war nur noch sieben Tage hin. Warum also nicht jetzt? Wenn ich wirklich diese Macht hatte, was konnte eine Woche da für eine Rolle spielen? Ich könnte die Gefahr hier und jetzt beenden, indem ich Kronos erledigte. Es war ja nicht so, als müsste ich zum ersten Mal gegen Monster und Götter kämpfen.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, lächelte Luke. Nein, es war ja Kronos. Das durfte ich nicht vergessen.
»Dann komm her«, sagte er. »Wenn du dich traust.«
Die Menge der Ungeheuer teilte sich. Ich ging mit hämmerndem Herzen die Treppe hoch und war sicher, dass mich jemand von hinten erstechen würde, aber sie ließen mich durch. Ich griff in meine Tasche und mein Kugelschreiber wartete dort auf mich. Ich drehte die Kappe herunter und Springflut wuchs zu einem Schwert heran.
Auch Kronos’ Waffe erschien in seiner Hand – eine fast zwei Meter lange Sense, zur Hälfte aus himmlischer Bronze, zur Hälfte aus sterblichem Stahl. Beim bloßen Anblick wurden meine Knie weich. Aber ehe ich mir die Sache anders überlegen konnte, griff ich an.
Die Zeit wurde langsamer. Ich meine, wirklich langsamer, denn Kronos besaß die Macht über sie. Ich hatte das Gefühl, mich durch Sirup zu bewegen. Meine Arme waren so schwer, dass ich mein Schwert kaum heben konnte. Kronos lächelte, schwang in normalem Tempo seine Sense und wartete darauf, dass ich in den Tod kroch.
Ich versuchte, gegen seinen Zauber anzukämpfen. Ich konzentrierte mich auf das Meer, das uns umgab – den Quell meiner Kraft. Ich hatte im Laufe der Jahre immer besser gelernt, diese Kraft zu lenken, aber jetzt schien gar nichts zu passieren.
Ich machte einen weiteren langsamen Schritt vorwärts. Riesen feixten, Dracaenae zischten vor Lachen.
He, Ozean, flehte ich. Jede Hilfe ist willkommen.
Plötzlich verkrampfte sich alles in mir vor Schmerz. Das Boot bekam Schlagseite und die Monster fielen um. An die zehntausend Liter Salzwasser schossen aus dem Schwimmbecken und übergossen mich und Kronos und alle anderen an Deck. Das Wasser belebte mich wieder und brach den Zeitzauber, und ich griff an.
Ich schlug nach Kronos, war aber noch immer zu langsam. Ich beging den Fehler, ihm ins Gesicht zu blicken – in Lukes Gesicht –, das Gesicht eines Typen, der früher einmal mein Freund gewesen war. Sosehr ich ihn auch hasste, es war schwer, ihn zu töten.
Kronos kannte dieses Zögern nicht. Er schlug mit seiner Sense zu. Ich sprang rückwärts, und die schreckliche Schneide verfehlt mich um Haaresbreite und riss zu meinen Füßen ein Loch ins Deck.
Ich versetzte Kronos einen Tritt gegen die Brust. Er taumelte rückwärts, war aber schwerer, als Luke es gewesen wäre. Es war, wie einem Kühlschrank einen Tritt zu versetzen.