Ich wollte sie anbrüllen, ihr sagen, es sei Wahnsinn, Kronos zur Vernunft bringen zu wollen, aber mir blieb keine Zeit. Kronos winkte kurz mit der Hand und Annabeth flog rückwärts, knallte gegen den Thron ihrer Mutter und stürzte zu Boden.
»Annabeth!«, schrie ich.
Ethan Nakamura kam auf die Füße. Er stand jetzt zwischen Annabeth und mir und ich konnte ihn nicht angreifen, ohne Kronos den Rücken zu kehren.
Grovers Musik nahm eine dringlichere Färbung an. Er ging auf Annabeth zu, konnte aber nicht schneller laufen, während er spielte. Gras wuchs aus dem Boden des Thronsaals und winzige Wurzeln stahlen sich aus den Rissen in den Marmorplatten.
Kronos erhob sich auf ein Knie; seine Haare schwelten und sein Gesicht war von Stromverbrennungen übersät. Er griff nach seinem Schwert, aber diesmal flog es nicht in seine Hände zurück.
»Nakamura«, stöhnte er. »Zeit, dich zu beweisen. Du kennst Jacksons geheime Schwäche. Bring ihn um und ich werde dich über alle Maßen belohnen!«
Ethans Augen wanderten zu meiner Mitte und ich war sicher, dass er es wusste. Selbst wenn er mich nicht selbst töten könnte, brauchte er es Kronos nur zu sagen. Ich würde mich nicht für immer verteidigen können.
»Sieh dich um, Ethan«, sagte ich. »Das Ende der Welt. Ist das die Belohnung, die du dir wünschst? Willst du wirklich, dass alles zerstört wird – das Gute zusammen mit dem Bösen? Einfach alles?«
Grover hatte Annabeth jetzt fast erreicht. Das Gras auf dem Boden wurde dichter und die Wurzeln waren fast dreißig Zentimeter lang, wie ein struppiger Ziegenbart.
»Es gibt keinen Thron für Nemesis«, murmelte Ethan. »Keinen Thron für meine Mutter!«
»Stimmt!« Kronos versuchte aufzustehen, brach aber wieder zusammen. »Mach sie nieder! Sie haben es nicht besser verdient!«
»Du hast gesagt, deine Mom sei die Göttin des Gleichgewichts«, erinnerte ich ihn. »Die zweitrangigen Götter haben sicher etwas Besseres verdient, Ethan, aber totale Zerstörung ist kein Gleichgewicht. Kronos baut nicht auf. Er zerstört nur.«
Ethan schaute den zischenden Thron des Hephaistos an. Grovers Musik erklang noch immer und Ethan bewegte sich im Takt, als fülle die Melodie ihn mit Nostalgie – mit dem Wunsch, einen schönen Tag zu erleben, irgendwo anders zu sein, nur nicht hier. Sein einziges Auge blinzelte.
Dann griff er an … aber nicht mich.
Während Kronos noch immer auf den Knien lag, traf Ethans Schwert den Hals des Titanenherrschers. Der Schlag hätte Kronos sofort töten müssen, aber die Klinge zerbrach. Ethan wurde zurückgeschleudert und griff sich an den Bauch: Ein Stück seiner eigenen Klinge war zurückgeprallt und hatte seine Rüstung durchbohrt.
Kronos kam schwankend auf die Beine und ragte über seinem Diener auf. »Verrat«, fauchte er.
Grover spielte noch immer und Gras wuchs um Ethans Körper. Ethan starrte mich mit schmerzverzerrtem Gesicht an.
»Besseres verdient«, keuchte er. »Wenn sie nur … Throne hätten …«
Kronos stampfte mit dem Fuß auf und der Boden um Ethan Nakamura brach auseinander. Der Sohn der Nemesis fiel in einen Spalt und durch das Herz des Berges ins Nichts.
»Der wäre erledigt.« Kronos hob sein Schwert auf. »Und jetzt zu euch.«
Mein einziger Gedanke war, ihn von Annabeth wegzuhalten.
Grover stand neben ihr. Er spielte nicht mehr, sondern flößte ihr Ambrosia ein. Wo immer Kronos stehen blieb, wickelten die Wurzeln sich um seine Füße, aber Grover hatte zu früh mit seiner Magie aufgehört. Die Wurzeln waren nicht stark genug, um mehr auszurichten, als den Titanen zu verärgern.
Wir kämpften mitten in der Feuerstelle und wirbelten Kohlenstücke und Funken auf. Kronos schlug eine Armlehne vom Thron des Ares, was ich in Ordnung fand, aber dann drängte er mich zum Thron meines Dads zurück.
»Das ist gut«, sagte Kronos. »Das wird schönes Brennholz für meine neue Feuerstelle.«
Unsere Klingen trafen in einem Funkenschauer aufeinander. Kronos war stärker als ich, aber für einen Moment spürte ich die Macht des Ozeans in meinen Armen. Ich stieß Kronos zurück, schlug wieder zu und zog Springflut so hart über seinen Brustpanzer, dass ich ein Loch in die himmlische Bronze riss.
Er stampfte wieder mit dem Fuß auf und die Zeit wurde langsamer. Ich versuchte anzugreifen, aber ich bewegte mich mit der Geschwindigkeit eines Gletschers. Kronos zog sich in aller Ruhe zurück, um wieder zu Atem zu kommen. Er untersuchte den Riss in seiner Rüstung, während ich mich vorwärtskämpfte und ihn in Gedanken verfluchte. Er konnte sich so viele Pausen gönnen, wie er brauchte. Er konnte mich nach Lust und Laune mitten in der Bewegung erstarren lassen. Meine einzige Hoffnung war, dass diese Anstrengung ihm alle Kraft aussaugte. Wenn ich ihn ermüden könnte …
»Es ist zu spät, Percy Jackson«, sagte er. »Schau her.«
Er zeigte auf die Feuerstelle und die Kohlen glühten auf. Eine weiße Rauchfahne erhob sich aus dem Feuer und formte Bilder wie bei einer Irisbotschaft. Ich sah Nico und meine Eltern unten auf der Fifth Avenue, wo sie von Feinden umzingelt waren und einen hoffnungslosen Kampf ausfochten. Im Hintergrund kämpfte Hades auf seinem schwarzen Streitwagen, er rief eine Welle von Zombies nach der anderen aus dem Boden, aber die Armee des Titanen schien ebenso unendlich groß zu sein. Manhattan wurde inzwischen dem Erdboden gleichgemacht. Sterbliche, jetzt bei vollem Bewusstsein, rannten voller Angst hin und her. Autos schlingerten umher und stießen zusammen.
Die Szene veränderte sich und ich sah etwas noch Entsetzlicheres.
Eine Sturmsäule bewegte sich rasch die Küste von Jersey entlang und näherte sich dem Hudson. Streitwagen umkreisten sie, verstrickt in einen Kampf mit dem Wesen in der Wolke.
Die Götter griffen an. Blitze loderten auf. Goldene und silberne Pfeile jagten in die Wolke wie Leuchtraketen und explodierten. Langsam wurde die Wolke auseinandergerissen und zum ersten Mal konnte ich Typhon deutlich erkennen.
Ich wusste, diesen Anblick würde ich den Rest meines Lebens (was möglicherweise nicht mehr lange dauern würde) nicht vergessen können. Typhons Kopf änderte sich ununterbrochen; jeden Moment verwandelte er sich in ein anderes Monster, jedes noch grauenhafter als das letzte. In sein Gesicht zu schauen, hätte mich in den Wahnsinn getrieben, also konzentrierte ich mich auf seinen Rumpf, was aber nicht viel besser war. Er hatte eine menschliche Gestalt, aber seine Haut erinnerte mich an einen Fleischklops, der ein ganzes Jahr bei jemandem im Schrank herumgelegen hat. Sie war grün gesprenkelt, mit Blasen, so groß wie Häuser, und verkohlten Stellen, weil er für Äonen unter einem Vulkan festgesteckt hatte. Er hatte Menschenhände, doch sie waren mit Adlerklauen besetzt. Seine Beine waren schuppig wie die eines Reptils.
»Die Olympier bieten ihre letzten Kräfte auf.« Kronos lachte. »Wie jämmerlich.«
Zeus schleuderte aus seinem Wagen einen Blitzstrahl. Der Blitz erhellte die ganze Welt und ich konnte seine Kraft sogar hier auf dem Olymp spüren, doch als der Staub sich verzogen hatte, stand Typhon noch immer aufrecht. Er taumelte ein wenig und hatte einen rauchenden Krater in seinem missgestalteten Schädel, aber er brüllte vor Wut und rückte weiter vor.
Meine Glieder entspannten sich. Kronos schien das nicht zu bemerken. Er konzentrierte sich auf den Kampf und seinen letzten Sieg. Wenn ich noch einige Sekunden durchhalten könnte und wenn mein Dad sein Wort hielt …
Typhon trat in den Hudson und das Wasser reichte ihm kaum bis zur Mitte der Wade.
Jetzt, dachte ich und flehte das Bild im Rauch an. Bitte, lass es jetzt passieren.
Wie durch ein Wunder erscholl aus dem rauchigen Bild ein Muschelhorn. Der Ruf des Ozeans. Der Ruf des Poseidon.
Überall um Typhon herum explodierte der Hudson, er kochte und schlug Wellen von fünfzehn Meter Höhe. Aus dem Wasser brach ein weiterer Streitwagen – und dieser wurde gezogen von riesigen Hippocampi, die in der Luft ebenso mühelos schwammen wie im Wasser. Mein Vater, umgeben von einer blauen Aura der Kraft, zog einen Kreis um die Beine des Riesen. Poseidon war kein alter Mann mehr. Er sah wieder aus wie er selbst – sonnengebräunt und stark und mit einem schwarzen Bart. Als er seinen Dreizack schwang, antwortete der Fluss und bildete um das Monster eine Windhose.