»Sie hat sich ein wenig Sorgen gemacht«, sagte Paul trocken.
»Mir geht’s gut«, versicherte ich, als meine Mom Annabeth umarmte. »Jetzt ist alles wieder in Ordnung.«
»Mr Blofis«, sagte Annabeth, »das war großartige Schwertarbeit.«
Paul zuckte mit den Schultern. »Schien mir irgendwie angesagt. Aber Percy, stimmt das wirklich … ich meine, das mit dem sechshundertsten Stock?«
»Olymp«, sagte ich. »Ja.«
Paul schaute mit verträumter Miene zur Decke hoch. »Das würde ich gern sehen.«
»Paul«, sagte meine Mom vorwurfsvoll. »Das ist nichts für Sterbliche. Das einzig Wichtige ist, dass wir gerettet sind. Wir alle.«
Ich fing fast an, mich zu entspannen. Alles schien perfekt. Annabeth und mir ging es gut. Meine Mom und Paul hatten überlebt. Der Olymp war gerettet.
Aber so leicht ist das Leben eines Halbgottes nie. In diesem Moment kam Nico von der Straße hereingerannt und sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass etwas nicht stimmte.
»Es geht um Rachel«, sagte er. »Ich bin ihr eben in der 32nd Street begegnet.«
Annabeth runzelte die Stirn. »Was hat sie denn jetzt wieder angestellt?«
»Es geht darum, wo sie hin ist«, sagte Nico. »Ich habe ihr gesagt, es würde ihr Tod sein, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Sie hat einfach Blackjack genommen und …«
»Sie hat meinen Pegasus genommen?«, fragte ich.
Nico nickte. »Sie will nach Half-Blood Hill. Sie sagt, sie müsse unbedingt ins Camp.«
Ich werde sitzen gelassen
Niemand stiehlt meinen Pegasus. Nicht einmal Rachel. Ich wusste nicht so recht, ob ich sauer oder überrascht oder besorgt sein sollte.
»Was denkt die sich denn eigentlich?«, fragte Annabeth, als wir zum Fluss rannten. Leider konnte ich mir das ziemlich gut vorstellen und es machte mir große Angst.
Der Verkehr war eine Katastrophe. Alle Welt stand auf den Straßen herum und sah sich die Schäden der Schlacht an. An jeder Ecke heulten Polizeisirenen. Es war unmöglich, ein Taxi zu bekommen, und die Pegasi waren weggeflogen. Ich hätte mich auch mit den Partyponys zufriedengegeben, aber die waren mit sämtlichen Malzbiervorräten aus der Stadt verschwunden. Also rannten wir und drängten uns durch Gruppen aus benebelten Sterblichen, die die Bürgersteige versperrten.
»Sie kommt doch nie durch die Abwehr«, sagte Annabeth. »Peleus wird sie fressen.«
Daran hatte ich gar nicht gedacht. Der Nebel würde Rachel nicht täuschen wie die meisten anderen; sie würde das Camp ohne Probleme finden. Aber ich hatte gehofft, die magischen Grenzen würden sie draußen halten wie ein Energiefeld. Ich war nicht auf die Idee gekommen, dass Peleus sie angreifen könnte.
»Wir müssen uns beeilen.« Ich schaute Nico an. »Du kannst nicht zufällig ein paar Skelettpferde heraufbeschwören?«
Er keuchte im Laufen. »Zu müde … könnte nicht mal mehr einen Hundeknochen besorgen.«
Endlich kletterten wir über das Geländer ans Ufer und ich stieß einen lauten Pfiff aus. Ich tat das überhaupt nicht gern. Auch wenn ich dem East River den Sanddollar zum magischen Großputz gegeben hatte, war das Wasser hier doch noch ziemlich verschmutzt. Ich wollte keine Seetiere krank machen, aber auf meinen Ruf kamen sie.
An drei Stellen kräuselte sich das graue Wasser und eine Gruppe von Hippocampi brach durch die Oberfläche. Sie wieherten unglücklich und schüttelten sich Flussschlamm aus den Mähnen. Es waren wunderschöne Wesen mit knallbunten Fischschwänzen und den Köpfen und Vorderbeinen weißer Hengste. Der erste Hippocampus war größer als die anderen – das passende Reittier für einen Zyklopen.
»Regenbogen!«, rief ich. »Wie geht’s denn so, Kumpel?«
Er wieherte eine Beschwerde.
»Ja, tut mir leid«, sagte ich. »Aber das ist ein Notfall. Wir müssen ins Camp.«
Er schnaubte.
»Tyson?«, sagte ich. »Tyson geht es gut. Tut mir leid, dass er nicht hier ist. Er ist jetzt ein großer General bei der Zyklopenarmee.«
»IHIHIIIIIH!«
»Ja, sicher wird er dir trotzdem noch Äpfel bringen. Also, ins Camp …«
Gleich darauf jagten Annabeth, Nico und ich schneller als auf Jetskiern durch den East River. Wir schossen unter der Throgs Neck Bridge durch und steuerten den Long Island Sound an.
Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis wir den Strand des Camps sahen. Wir bedankten uns bei den Hippocampi und wateten zum Ufer, wo Argus bereits auf uns wartete. Er stand im Sand, hatte die Arme verschränkt und seine hundert Augen starrten uns wütend an.
»Ist sie hier?«, fragte ich.
Er nickte düster.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Annabeth.
Argus schüttelte den Kopf.
Wir folgten ihm den Pfad hoch. Es kam mir unwirklich vor, wieder im Camp zu sein. Alles sah so friedlich aus: keine brennenden Gebäude, keine verwundeten Kämpfer. Die Hütten leuchteten im Sonnenschein, auf den Wiesen glitzerte der Tau. Aber alles war wie ausgestorben.
Oben beim Hauptgebäude stimmte dann wirklich etwas nicht. Grünes Licht kam aus allen Fenstern, wie ich es in meinem Traum von May Castellan gesehen hatte, und Nebel – die magische Sorte – wirbelte über den Hof. Chiron lag auf einer pferdegroßen Bahre beim Volleyballplatz, und etliche Satyrn standen bei ihm. Blackjack trabte nervös im Gras hin und her.
Mach mir keine Vorwürfe, Boss, bat er, als er mich sah. Diese Verrückte hat mich dazu gezwungen.
Rachel Elizabeth Dare stand vor der Verandatreppe. Sie hatte die Arme erhoben, als warte sie darauf, dass ihr jemand aus dem Haus einen Ball zuwarf.
»Was macht sie denn da?«, wollte Annabeth wissen. »Wie ist sie durch die Sperren gekommen?«
»Sie ist geflogen«, sagte ein Satyr und sah Blackjack vorwurfsvoll an. »Einfach so am Drachen vorbei und durch die magische Grenze.«
»Rachel!«, rief ich, aber die Satyrn hielten mich auf, als ich weitergehen wollte.
»Percy, nicht!«, warnte Chiron. Er krümmte sich vor Schmerz, als er versuchte, sich zu bewegen. Sein linker Arm lag in einer Schlinge, seine beiden Hinterbeine waren geschient und sein Kopf war mit Verbänden umwickelt. »Du darfst sie nicht stören!«
»Ich dachte, Sie hätten ihr alles erklärt.«
»Das habe ich auch. Und ich habe sie hierher eingeladen.«
Ich starrte ihn ungläubig an. »Sie haben gesagt, Sie würden es niemanden je wieder versuchen lassen. Sie haben gesagt …«
»Ich weiß, was ich gesagt habe, Percy. Aber das war falsch von mir. Rachel hatte eine Vision vom Fluch des Hades. Sie glaubt, dass er vielleicht aufgehoben worden ist. Sie hat mich davon überzeugt, dass sie eine Chance verdient hat.«
»Und wenn der Fluch nun nicht aufgehoben worden ist? Wenn Hades dazu noch nicht gekommen ist, wird sie den Verstand verlieren!«
Der Nebel wirbelte um Rachel herum. Sie zitterte, als stünde sie kurz vor einem Schock.
»He!«, schrie ich. »Aufhören!«
Ich rannte auf sie zu und achtete nicht auf die Satyrn. Als ich auf fast drei Meter an sie herangekommen war, traf ich auf so etwas wie einen unsichtbaren Gummiball. Ich wurde zurückgeworfen und landete im Gras.
Rachel öffnete die Augen und drehte sich um. Sie sah aus wie eine Schlafwandlerin – als könne sie mich zwar sehen, aber nur im Traum,
»Ist schon gut.« Ihre Stimme schien von weit her zu kommen. »Deshalb bin ich ja hier.«
»Es wird dich zerstören!«
Sie schüttelte den Kopf. »Hier gehöre ich hin, Percy. Endlich begreife ich, warum.«
Das klang mir zu sehr wie das, was May Castellan gesagt hatte. Ich musste sie aufhalten, aber ich konnte nicht einmal aufstehen.
Das Haus dröhnte. Die Tür sprang auf und grünes Licht strömte heraus. Ich erkannte den warmen muffigen Geruch von Reptilien.
Der Nebel verdichtete sich zu hundert Schlangen, die an den Verandapfosten hochglitten und sich um das Haus ringelten. Dann trat das Orakel in die Tür.
Die verwitterte Mumie schleppte sich in ihrem Regenbogenkleid vorwärts. Sie sah noch schlimmer aus als sonst, und das will wirklich was heißen. Ihr fielen büschelweise die Haare aus und ihre lederartige Haut platzte wie ein Sitz in einem ausrangierten Bus. Ihre glasigen Augen starrten ins Leere, aber ich hatte das unheimliche Gefühl, dass sie geradewegs zu Rachel hingezogen wurde.