Er seufzte zufrieden.
Ich sah zu, wie Tyson eine Gruppe von Zyklopen anführte. Sie fügten riesige Steinquader für die Hekate-Hütte zusammen, und ich wusste, das war eine sehr anspruchsvolle Arbeit. Jeder Stein war mit magischer Schrift versehen, und wenn sie einen fallen ließen, dann würde er entweder explodieren oder alle im Umkreis von einem Kilometer in einen Baum verwandeln. Ich glaube, außer Grover würde das niemand besonders toll finden.
»Ich werde viel auf Reisen sein«, sagte Grover jetzt. »Weil ich doch die Natur schützen und Halbblute suchen muss. Dann sehen wir uns vielleicht nicht mehr so oft.«
»Egal«, sagte ich. »Du bist trotzdem mein bester Freund.«
Er grinste. »Nach Annabeth.«
»Das ist etwas anderes.«
»Ja«, stimmte er zu. »Das kann man wohl sagen.«
Am späten Nachmittag machte ich einen letzten Spaziergang am Strand, als eine vertraute Stimme sagte: »Guter Tag zum Angeln.«
Mein Dad, Poseidon, stand bis zu den Knien in der Brandung, er trug seine üblichen Bermudashorts, die verschlissene Mütze und ein richtig feines rosa-grünes Tommy-Bahama-Hemd. Er hielt eine Hochseeangel in der Hand und als er sie auswarf, reichte die Schnur halb durch den Long Island Sound.
»He, Dad«, sagte ich. »Was führt dich denn her?«
Er zwinkerte. »Auf dem Olymp konnten wir uns ja gar nicht unter vier Augen unterhalten. Ich wollte mich bei dir bedanken.«
»Dich bedanken? Du hast doch alles gerettet.«
»Ja, und dabei meinen Palast der Zerstörung preisgegeben, aber du weißt ja, Paläste kann man wieder aufbauen. Ich habe jede Menge Dankschreiben von den andern Göttern bekommen. Sogar Ares hat mir geschrieben, auch wenn ich glaube, dass Hera ihn dazu gezwungen hat. Das ist wirklich befriedigend. Also danke ich dir. Ich schätze mal, sogar Götter können noch dazulernen.«
Das Meer fing an zu kochen. An der Angelschnur meines Dads brach eine riesige grüne Seeschlange aus dem Wasser. Sie zappelte und wehrte sich, aber Poseidon seufzte nur. Er nahm die Angelrute in eine Hand, zog mit der anderen sein Messer und kappte die Schnur. Das Monster versank wieder unter der Wasseroberfläche.
»Nicht groß genug zum Essen«, klagte er. »Ich muss die kleinen freilassen, sonst krieg ich es mit den Wildhütern zu tun.«
»Die kleinen?«
Er grinste. »Das mit den neuen Hütten macht sich gut, wollte ich noch sagen. Das heißt wohl, ich kann alle anderen Söhne und Töchter anerkennen und dir nächsten Sommer ein paar Geschwister schicken.«
»Ha, ha.«
Poseidon holte seine leere Angelschnur ein.
Ich trat von einem Fuß auf den anderen. »Äh, das war doch ein Witz, oder?«
Poseidon zwinkerte mir vielsagend zu, und ich wusste noch immer nicht, ob er es ernst meinte oder nicht. »Wir sehen uns bald wieder, Percy. Und achte immer darauf, welche Fische groß genug zum Einholen sind, okay?«
Damit löste er sich in der Brandung auf und ließ nur eine Angelrute im Sand zurück.
Es war der letzte Abend im Camp – die Perlenzeremonie. In diesem Jahr hatte die Hephaistos-Hütte die Perle entworfen. Sie zeigte das Empire State Building und mit winzigen griechischen Buchstaben waren die Namen aller Helden eingraviert, die bei der Verteidigung des Olymps ums Leben gekommen waren. Es waren viel zu viele Namen, aber ich war stolz darauf, die Perle zu tragen. Ich zog sie auf mein Camphalsband – ich hatte jetzt vier Perlen und kam mir vor wie ein Veteran. Ich dachte an das erste Lagerfeuer, an dem ich jemals teilgenommen hatte, damals mit zwölf Jahren, und wie sehr ich mich zu Hause gefühlt hatte. Wenigstens das hatte sich nicht geändert.
»Vergesst diesen Sommer nie!«, sagte Chiron zu uns. Er war überraschend schnell genesen, aber noch immer hinkte er vor dem Feuer hin und her. »Wir haben in diesem Sommer Tapferkeit und Freundschaft und Mut entdeckt. Wir haben die Ehre des Camps gerettet.«
Er lächelte mir zu und alle jubelten. Als ich ins Feuer schaute, sah ich ein kleines Mädchen in einem braunen Kleid, das die Flammen schürte. Sie zwinkerte mir mit rot glühenden Augen zu. Niemand sonst schien sie zu bemerken, aber ich denke mal, das war ihr auch lieber so.
»Und jetzt«, sagte Chiron, »früh ins Bett. Vergesst nicht, dass ihr eure Hütten bis morgen Mittag geräumt haben müsst, falls ihr nicht ausgemacht habt, dass ihr das ganze Jahr hier bleibt. Die Putzharpyien verschlingen alle Nachzügler, und ich möchte doch nicht, dass dieser Sommer mit einem Missklang endet.«
Am nächsten Morgen standen Annabeth und ich oben auf dem Half-Blood Hill. Wir sahen zu, wie Busse und Autos abfuhren und die meisten aus dem Camp in die wirkliche Welt zurückbrachten. Einige von den Veteranen blieben hier, dazu einige der Neuen, aber ich würde zum neuen Schuljahr an die Goode High School zurückkehren – zum ersten Mal in meinem Leben würde ich zwei Jahre an derselben Schule verbringen.
»Wiedersehen«, sagte Rachel zu uns, als sie sich ihren Rucksack aufsetzte. Sie sah ziemlich nervös aus, aber sie würde das Versprechen halten, das sie ihrem Vater gegeben hatte, und die Clarion Academy in New Hampshire besuchen. Wir würden unser Orakel erst im nächsten Sommer zurückbekommen.
»Du wirst das großartig machen.« Annabeth umarmte sie. Seltsamerweise verstand sie sich neuerdings gut mit Rachel.
Rachel biss sich auf die Lippen. »Hoffentlich hast du Recht. Ich mache mir schon Sorgen. Was, wenn mich irgendwer fragt, was im Mathetest vorkommt, und ich dann mitten in der Geometriestunde eine Weissagung von mir gebe? Das Theorem des Pythagoras wird Frage zwei sein … Bei den Göttern, wäre das nicht peinlich?«
Annabeth lachte und zu meiner Erleichterung lächelte Rachel jetzt ebenfalls.
»Na«, sagte sie, »seid nett zueinander, ihr zwei.« Und stellt euch vor, sie sah dabei tatsächlich mich an, als ob ich ein Unruhestifter oder sowas wäre. Ehe ich Einspruch erheben konnte, wünschte Rachel uns alles Gute und rannte den Hang hinab, um ihre Mitfahrgelegenheit nicht zu verpassen.
Annabeth würde, den Göttern sei Dank, in New York bleiben. Ihr Vater hatte ihr erlaubt, dort ein Internat zu besuchen, damit sie in der Nähe des Olymps blieb und die Wiederaufbauarbeiten beaufsichtigen konnte.
»Und in meiner Nähe«, sagte ich.
»Na, hier kommt sich aber jemand wichtig vor.« Aber sie schob ihre Finger durch meine. Ich dachte daran, was sie mir in New York erzählt hatte, darüber, dass sie etwas Dauerhaftes bauen wollte, und ich dachte – nur ganz vielleicht –, dass wir gute Aussichten hatten.
Der Wachdrache Peleus rollte sich zufrieden unter dem Goldenen Vlies um die Fichte und fing an zu schnarchen, wobei er bei jedem Atemzug Rauch ausstieß.
»Hast du über Rachels Weissagung nachgedacht?«, fragte ich Annabeth.
Sie runzelte die Stirn. »Woher weißt du das?«
»Weil ich dich kenne.«
Sie stieß mich mit der Schulter an. »Na gut, hab ich. Dem Ruf werden folgen der Halbblute sieben. Wer das wohl sein wird? Wir werden im nächsten Sommer so viele neue Gesichter hier haben.«
»Ja«, stimmte ich zu. »Und dann noch dieser ganze Kram über die Welt, die in Sturm oder Feuer stirbt.«
Sie spitzte die Lippen. »Und Feinde an des Todes Gemäuer. Ich weiß nicht, Percy, aber mir gefällt das nicht. Ich dachte … na ja, ich dachte, wir könnten zur Abwechslung mal eine Runde Frieden haben.«
»Wenn es friedlich wäre, wäre es nicht Camp Half-Blood«, sagte ich.
»Da hast du wohl Recht … aber vielleicht trifft die Weissagung ja erst in vielen Jahren ein.«
»Könnte ruhig mal ein Problem für eine andere Generation von Halbgöttern sein«, sagte ich zustimmend. »Und wir können die Sache vergessen und uns amüsieren.«
Sie nickte, wirkte aber immer noch beunruhigt. Ich konnte ihr da keinen Vorwurf machen, aber es war schwer, an einem so schönen Tag besorgt zu sein, zusammen mit ihr und mit dem Wissen, dass ich mich nicht richtig verabschieden musste. Wir hatten noch so viel Zeit.
»Wer zuerst an der Straße ist?«, fragte ich.