Das Gasthaus »The Trip to Jerusalem« war ein langes, niedriges Fachwerkgebäude, das sich mit den unmöglichsten Verwinkelungen ausdehnte. Es stammte aus dem 12. Jahrhundert und soll ein Rastplatz für Soldaten gewesen sein, die im Jahre 1189 nach Süden ritten, um sich dem Kreuzzug anzuschließen. Damals war es das Brauhaus des Schlosses und gab sich aus einem gewissen Gefühl fürs Geistliche den Namen »Pilgrim«. Unter der Leitung von Sir Clarence Marmion hatte es seinen vollen Namen bekommen, obwohl die Stammgäste es normalerweise und durchaus prägnant mit »Jerusalem« bezeichneten.
Sir Clarence zog den Kopf unter dem niedrigen Türbalken ein, ging durch den Flur und betrat den Schankraum. Eine Wolke aus Bier- und Tabaksdunst schlug ihm entgegen. Als er sich zu voller Höhe aufrichtete, berührte sein Kopf beinahe die unebene Zimmerdecke.
Der Gastwirt reagierte sofort auf sein Erscheinen, hastete hinter dem Schank hervor, wischte sich die Hände an seiner Schürze ab und nickte unterwürfig.
»Einen guten Tag wünsche ich, Sir Clarence!«
»Euch auch, Sir.«
»Willkommen im ›Jerusalem‹.«
»Wenn das doch nur wahr wäre!« erwiderte der andere temperamentvoll.
»Euer Zimmer ist bereits fertig, Sir Clarence.«
»Ich ziehe mich gleich dorthin zurück.«
»Läutet die Glocke, wenn Ihr einen Wunsch habt.«
»Wir dürfen unter keinen Umständen gestört werden.«
»Natürlich nicht, Sir Clarence«, sagte der Hauswirt und verbeugte sich kriecherisch. »Ich verspreche Euch, niemand wird auch nur in die Nähe Eures Zimmers kommen. Überlaßt das nur mir.«
Seine Hände, groß, feucht und patschig, kneteten sich gegenseitig aus lauter Nervosität. Der Besucher schien jedesmal diese Wirkung auf Lambert Pym zu haben. Selbst nach einem Jahrzehnt als Wirt dieses Gasthofes hatte er seine Angst vor dem Temperament der Marmions immer noch nicht verloren. Ein Zittern durchlief seinen pummeligen Körper, sobald der Besucher ihn ansprach, seine ruppige Art, mit der er normalerweise die Gäste abfertigte, verschwand urplötzlich hinter einer übertriebenen Unterwürfigkeit.
Sir Clarence blickte voller Verachtung auf ihn hinab. »Ich habe Nachrichten aus London.«
»Tatsächlich, Sir Clarence?«
»Eine Gruppe von Theaterleuten ist unterwegs hierher.«
»In diesem Sommer haben wir viele Theaterleute in York.«
»Westfield's Men sind nicht das übliche Volk. Sie sind mir von einem Freund empfohlen worden, und dieser Empfehlung will ich Folge leisten.«
»Wie Ihr wünscht, Sir Clarence.«
»Die Gruppe wird hier auf meine Kosten Unterkunft erhalten.«
»Eure Gastfreundschaft gereicht Euch zur Ehre.«
»Die Gruppe wird in Eurem Hof eine Vorstellung geben.«
»Ich werde sofort die notwendigen Anweisungen geben, Sir Clarence.«
»Eine zweite Aufführung wird in Marmion Hall stattfinden.«
»Ich hoffe, die Leute wissen ihr großes Glück zu schätzen«, sagte der Wirt und zupfte sich seinen verfilzten schwarzen Bart. »Wann dürfen wir die Schauspieler erwarten?«
»Frühestens in zehn Tagen. Sie haben noch andere Verpflichtungen.«
»Nirgendwo wird man sie so willkommen heißen wie im ›Jerusalem‹.«
»Das ist meine Forderung an Euch. Kümmert Euch darum.«
Lambert Pym verbeugte sich, dann rannte er durch den Raum, um eine kleine Tür aufzureißen, die zu einer schmalen Treppe führte. Sein schwammiges Gesicht verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln.
»Euer Gast ist bereits drinnen, Sir Clarence.«
»Ich hatte nichts anderes erwartet.«
»Der Raum steht Euch zur Verfügung, solange es Euch beliebt.«
»Wie alles andere auch.«
Und mit dieser spitzen Bemerkung bückte sich Sir Clarence, um durch die niedrige Tür zu treten, und stieg die knarrenden Stufen hinauf. Am Ende des Flurs betrat er ein Zimmer, das auf der Rückseite des Hauses lag. Sein Gast saß hinter einem kleinen Eichentisch und erhob sich, als er eintrat. Sir Clarence winkte ihn mit der Hand in seinen Sessel zurück und schritt durch den Raum, um sich damit vertraut zu machen und die private Atmosphäre zu prüfen. Erst, als er auch den letzten Winkel inspiziert hatte, setzte er sich ebenfalls an den Tisch.
Er zog seinen Handschuh aus, griff mit der Hand in sein Wams und zog den zweiten Brief heraus, den er aus London erhalten hatte. Sein Inhalt ließ ihn die Zähne zusammenbeißen.
»Schlechte Nachrichten, Sir.«
»Wie wir es befürchtet haben?«
Er reichte den Brief hinüber, sein Gast ergriff ihn mit furchtsamer Hast. Er war klein, hellwach und einfach gekleidet. Robert Rawlins hatte die Haltung und Gestik eines Gelehrten. Sein verkniffenes Gesicht, die klugen Augen und gerundeten Schultern deuteten auf langjährige Arbeit mit klugen Büchern in staubigen Bibliotheken. Er brauchte nur Sekunden, um den Brief zu lesen, und blickte voller Entsetzen auf.
»Mögen alle Heiligen uns beschützen!«
*
Es war ein gutes Omen. An ihrem ersten Abend ohne den Komfort der Hauptstadt trafen Westfield's Men auf Freundlichkeit und Großzügigkeit. Sie machten im »Fighting Cocks« Station, einem schönen und angenehmen Haus, das Enfield Chase überblickte. Dies war ein Hotel, in dem ihr Schirmherr auf seinen Reisen von und nach St. Albans, seinem Besitz, häufig abstieg; sie waren jetzt die Nutznießer dieser Gewohnheit. Der Gastwirt empfing die Gruppe nicht nur mit weit ausgebreiteten Armen, er sorgte auch dafür, daß jeder in einem weichen Bett schlafen konnte, und nahm nur eine kleine Vergütung für seine Mühen. Für die Schauspieler war es wie ein Geschenk des Himmels. Es würden Zeiten kommen, in denen einige von ihnen auf Stroh in den Stallungen übernachten oder sogar unter freiem Himmel kampieren mußten. Richtige Betten, selbst wenn man sie mit ein paar ruhelosen Genossen teilen mußte, waren ein Luxus, den man gerne auskostete.
Es gab noch mehr gute Nachrichten an diesem Abend. Im Hotel »Fighting Cocks« übernachteten noch andere Gäste, wohlhabende Kaufleute, die ihre Heimreise nach Kent hier unterbrachen und denen der Sinn danach stand, ihre geschäftlichen Erfolge mit angenehmer Unterhaltung etwas zu feiern. Westfield's Men bedienten sie mit allerhand Rezitationen aus dem Stegreif. Lawrence trug Reden aus seinen Lieblingsstücken vor, Barnaby Gill zeigte seine lustigen und komischen Tanzeinlagen, und Richard Honeydew sang Lieder zur Laute. Der gute Wein und echte Bewunderung brachten die Kaufleute dazu, sich von zehn Schillingen zu trennen, einer großzügigen Gabe, die direkt in die Schatulle der Gesellschaft wanderte.
Am nächsten Morgen blieb ihnen das Glück gewogen. Das Wetter war hervorragend, der Gastwirt versorgte sie mit Freibier und Proviant für die Reise. Frohgemut brachen sie auf. In Hertfordshire rechneten sie mit gutem Grund auf ein herzliches Willkommen. Hier, in der Grafschaft, in der er geboren war, hatte Lord Westfields Name einen guten Klang, was sich durch besonderes Entgegenkommen auszahlen würde.
Nicholas Bracewell wurde vorausgeschickt, um Vorbereitungen für ihre Ankunft zu treffen. Er lieh sich den Apfelschimmel von Edmund Hoode und ritt in leichtem Trab auf Ware zu. Man hatte dem Regisseur diesen Auftrag nicht etwa nur gegeben, weil er ein guter Reiter war. Ausschlaggebend war seine Fähigkeit, auf sich selber aufzupassen. Alleinreisende waren auf bestimmten Straßenabschnitten Freiwild für alle Arten von Räubern, aber selbst der letzte Verbrecher würde es sich zweimal überlegen, ob er sich mit einem so kräftigen und gewandten Mann wie Nicholas Bracewell anlegen sollte.
Hertfordshire, eine der kleinsten Grafschaften, war die Wasserscheide für eine Anzahl von Flüssen; Nicholas kam häufig in die Nähe rauschender Wasserläufe. Vieh weidete auf den Wiesen, gebeugte Gestalten sammelten die letzten Reste der Heuernte ein. Er passierte einen Wald und ein Wildgehege, bevor er einen Marktgarten erreichte, der sich auf die Produktion von Wasserkresse spezialisiert hatte. Die Grafschaft war bekannt für die hohe Qualität ihrer Wasserkresse, die als gutes Heilmittel gegen Skorbut eingesetzt wurde, von dem so viele Londoner befallen waren. Ein freundlicher, hilfsbereiter Gärtner wies ihm die korrekte Richtung, Nicholas trieb sein Pferd an und ritt seines Weges.