»Doli!« schrie sie.
»Ja, Mistress?« sagte eine mädchenhafte Stimme.
»Komm sofort hierher!«
»Ich eile.«
Das Dienstmädchen wußte schon, warum es Margery nicht warten ließ. Sie hatte durch ein Fenster beobachtet, wie fünf der Gläubiger mit heißen Ohren das Weite suchen mußten. Doli lebte hier in diesem Haus und hatte niemand, zu dem sie hätte gehen können. Vollständige Unterwerfung war das einzige, womit sie ihre Herrin besänftigen konnte.
»Schneller, Mädchen!«
»Da bin ich, Mistress.«
»Dann geh wieder.«
»Wie denn das?«
»Hol mir Feder und Tinte.«
»Ich renne schon.«
»Und etwas, auf dem ich schreiben kann.«
»Ich fliege.«
»Flieg schneller, Mädchen!«
Margery Firethorn ergriff eine andere Möglichkeit.
Sie würde einen Brief schreiben.
*
Nicholas Bracewell hatte keine Chance, lange zu verhandeln. Zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen und ganz eindeutig im Unrecht, lag seine einzige Hoffnung in schneller Flucht. Schon stürmte ein halbes Dutzend kräftiger Zigeuner auf ihn los, deren zornige Gesichter unter ihren Schminkfarben unkenntlich waren, deren Gesten aber eine um so deutlichere Sprache sprachen. Der Junge, um den sich alles drehte, schrie weiter auf Nicholas ein, dann griff er sich eine Handvoll Erde und warf sie ihm ins Gesicht. Der Regisseur, der eine Sekunde lang nichts sehen konnte, ließ sein Schwert in einem weiten Bogen kreisen, um die Zigeuner abzuwehren, die rasch näher kamen. Als seine Augen wieder klar waren, sah er einen weiteren Mann auf sich zukommen, mit einem Brandeisen in der Hand und offensichtlich auf Mord erpicht. Nicholas vermutete in ihm den Vater des Jungen und hielt sich nicht damit auf, mit ihm eine Diskussion über die tänzerischen Fähigkeiten seines Sohnes zu beginnen.
Wieder ließ er sein Schwert kreisen, um sich Raum zu schaffen, dann wirbelte er herum und rannte los. Einer der Zigeuner war um ihn herumgeschlichen und versuchte, ihm den Weg zu verstellen, doch Nicholas rammte ihm die Schulter entgegen und warf ihn zur Seite. Die Verfolger waren dicht hinter ihm, begleitet von wildem Geschrei. Jetzt mischten sich auch noch ein paar Hunde ein.
Nicholas rannte, so schnell er konnte, steigerte sich jedoch nochmals, als ein langes Messer ein paar Zentimeter neben seinem Gesicht in einen Baum fuhr. Als er sein Pferd erreichte, konnte er es sich nicht leisten, bequem mit dem Steigbügel in den Sattel zu steigen. Er sprang auf, riß die Zügel los und machte dem Pferd klar, daß er es eilig hatte.
Er jagte davon, wütendes Geschrei in den Ohren. Drei Zigeuner folgten ihm und blieben ihm eine Meile oder mehr auf den Fersen, aber schließlich konnte er sie abschütteln und die Deckung eines Waldstückes erreichen. Während er wieder zu Atem kam, dachte er darüber nach, was ihn diese Reise gekostet hatte. Sie war teuer gewesen. Er hatte wertvolle Zeit vergeudet, sich eine Horde gefährlicher Gegner geschaffen und sich eine schmerzhafte Abschürfung an der Schulter zugezogen. Die Ironie feierte Triumph. Im Glauben, die Zigeuner hätten ihm einen Jungen gestohlen, endete alles damit, daß er das gleiche versuchte. Die Schuld lag ganz eindeutig bei ihm, dafür gab es kein Pardon. Nicholas wußte, daß er den Schmerz verdient hatte, den er noch immer in seinem Arm spürte. Er konnte froh sein, daß er mit dem Leben davongekommen war.
Jetzt war es seine Hauptaufgabe, wieder mit der Gruppe zusammenzutreffen, und er gönnte seinem Pferd keine Pause. Als er im Smith and Anvil eintraf, tränkte er sein Pferd und erkundigte sich, wann die anderen losgezogen waren, und schon saß er wieder im Sattel und ritt davon. Inzwischen war es Nachmittag geworden, die Sonne stand hoch am Himmel und machte den Regen der vergangenen Tage gut, indem sie jetzt das Land in ihren warmen Strahlen badete. Nicholas und sein Pferd troffen von Schweiß. Als der River Trent in Sicht kam, ließ er sein Pferd in einen gemächlichen Trott fallen. Vor ihm glitzerte das kühle Naß. Die Versuchung war zu groß für den erschöpften Reiter.
Er zügelte sein Pferd, als es die Hufe benetzte, und stieg aus dem Sattel. Dann band er das Pferd mit dem Zügel an einen überhängenden Ast, trat hinter einen Busch und schälte sich die klebrigen Sachen vom Körper. Niemand war zu sehen, als er nackt ans Ufer rannte und kopfüber ins Wasser tauchte. Ein wunderbares Gefühl durchströmte ihn, entspannend und anregend zugleich, linderte seine Schmerzen und gab ihm seine Kraft zurück. Mit kräftigen Schlägen schwamm er in die Flußmitte und ließ sich auf dem Wasser treiben. Seine Arme waren weit ausgestreckt, die Sonne vergoldete sein Haar und seinen Körper. Für ihn blieb die Zeit stehen.
*
Eleanor Budden kam hinter den Büschen am anderen Ufer des Flusses hervor und beobachtete die Erscheinung, die langsam in ihre Richtung trieb. Tief in kontemplative Gedanken versunken, hatte sie am Ufer des Trent gesessen, als sie das laute Klatschen hörte. Ihre Gedanken waren ganz bei ihrem Auftrag, sie wartete auf ein erneutes Zeichen des Himmels.
Dieses Zeichen war jetzt gekommen. Was sie auf dem Wasser sah, war kein erschöpfter Regisseur, der den Schmutz einer langen Reise abspülte. Sie wurde Zeugin eines Wunders. Geschlossene Augen, ausgestreckte Arme, wie an ein unsichtbares Kreuz genagelt, ein schlaffer, aber herrlicher Körper. Blondes Haupthaar, von der Sonne gekämmt. Dies war kein Fremder, sondern ihr bester Freund auf der Welt. Zuletzt hatte sie ihn in dem kleinen Fenster der Kirche von St. Stephen gesehen.
Eleanor Budden watete glücklich ins Wasser.
»Herr Jesus!« rief sie. »Bring mich nach Jerusalem!«
*
Nottingham war die erste größere Stadt, die sie seit ihrem Aufbruch erreichten, und das gab ihnen sofort ein Gefühl von Sicherheit. Sie war zwar winzig im Vergleich zu London, doch das machte nichts. Diese Stadt war eine gewaltige Verbesserung gegenüber den Dörfern, die sie zurückwiesen, und gegenüber den Nestern, die kein nennenswertes Publikum auf die Beine bringen konnten. Nottingham war Zivilisation.
Lawrence Firethorn ließ seine Gruppe im Saracen's Head in der Nähe der Stadtmitte absteigen, legte seine feinsten Kleider an und begab sich zum Bürgermeister. Die Spielerlaubnis war eine Kleinigkeit, die Stadthalle war der vorgesehene Aufführungsort. Der Bürgermeister war selbst ein begeisterter Theaterfreund und hocherfreut, daß Westfield's Men die Stadt mit ihrem Besuch beehrten. Über Geld wurde auch gesprochen, Firethorn verließ den Bürgermeister in bester Stimmung. Die Aufführung des »Robin Hood« wurde für den morgigen Tag angesetzt, was ihnen reichlich Zeit für die Proben gab, für die Anmietung von Statisten und für die Umformulierung der Rolle der Jungfer Marion, falls Richard Honeydews Abwesenheit andauern sollte. Alles schien in bester Ordnung zu sein.
Der Oberste Schauspieler kehrte in das Wirtshaus zurück, und die Welt brach wieder über ihm zusammen.
»Schon wieder! Das ist eine zweifache Beleidigung!«
»Ich habe die Plakate selbst gesehen, Master Firethorn.«
»Habt Ihr die Aufführung selber gesehen?«
»Das hätte ich nicht über mich gebracht. Meine Loyalität gehört Euch.«
»Das ehrt Euch, Mistress Hendrik.« Er schlug auf seinen Sessel. »Beim Himmel, das werde ich nicht dulden! Giles Randolph ist der ausgekochteste Gauner, der jemals über Gottes Erdboden ging. Selbstverständlich kann er keiner rechtmäßigen Verbindung entstammen, er wurde von zwei Mithaufen an einem heißen Sommertag gezeugt, an irgendeinem schleimigen Ort oder sonstwo.« Er sprang auf die Füße. »Und er hat tatsächlich ›Pompeius den Großem gespielt?«
»Genau vor zwei Tagen.«
»Verrat der allerhöchsten Stufe!«
Anne Hendrik hatte die Spur der Gruppe bis zum Gasthaus verfolgt und ihre Neuigkeiten verkündet. Edmund Hoode saß mit langem Gesicht neben Barnaby Gill und folgte dem Gespräch. Alle drei warteten, bis Lawrence Firethorn sein Gift verspritzt und fünfzehn verschiedene Wege aufgezeigt hatte, wie er einen Rivalen umbringen würde. Nachdem sie ihre ursprüngliche Reiseroute verlassen hatten, um Banbury's Men abzuschütteln, war es besonders ernüchternd, daß sie sich immer noch in ihrem Kielwasser bewegten. Firethorns Lieblingsrolle war gestohlen worden, und der ganze Ruhm, der Westfield's Men zugestanden hätte, war an miese Sterbliche vergeudet worden.