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Die beiden spazierten durch die engen Straßen zum Saracen's Head, ihrem Gasthaus, zurück. Nachdem der Regisseur alle erforderlichen Arbeiten in der Stadthalle organisiert hatte, fand er etwas Zeit mit Anne allein, bevor er sich wieder auf die Suche nach Richard Honeydew machte. Er erwähnte die paar handfesten Fakten, die er kannte.     

»Master Quilley hat mir ziemlich geholfen.«

»Der Künstler?«

»Ja«, sagte Nicholas. »Er ist zuvor in Leicester gewesen und hat Banbury's Men in der Stadt gesehen. Anstatt auf der Great North Road zu bleiben und rauf nach Doncaster zu ziehen, müssen sie Grantham verlassen und nach Südwesten gezogen sein.«

»Warum nach Leicester?«

»Vielleicht sind wir der Grund dafür, Anne.«

»Westfield's Men?«

»Vielleicht haben sie gedacht, wir würden uns beeilen und versuchen, sie einzuholen, um sie zur Rede zu stellen, und deshalb wollten sie uns abschütteln, indem sie ihre Reiseroute änderten. Aber es gibt noch einen wichtigeren Grund dafür. Leicester ist für jede Theatergruppe ein sicheres Pflaster. Master Quilley hat mir erzählt, daß Banbury's Men drei Aufführungen dort hatten und eine in Ashby-de-la-Zouche.«       

»Und dann in Nottingham mit ›Pompeius der Große‹.«

»Das hat Master Firethorn schwer getroffen.«

»Seine Eitelkeit war verletzt.«

»Das geht ja besonders schnell.«

Sie mußten beide lachen und blieben vor dem Haupteingang zum Saracen's Head stehen. Es war wunderschön gewesen, ihn so unerwartet wiederzusehen, aber Anne wußte auch, daß sie sich nun wieder trennen mußten, und das ohne die Freuden eines langen und zärtlichen Abschieds. Sie küßte ihn auf die Wange und drückte ihn ein paar Augenblicke fest an sich.

»Sei bitte vorsichtig, Nick.«

»Das bin ich.«

»Komm gesund nach Hause.«

»Mit Gottes Hilfe bringe ich Dick Honeydew mit zurück.«

»Wo kann er nur sein?«

»Er wartet, Anne.«

»Worauf?«

»Auf seine Befreiung.«

*

Der Schuppen war klein, finster und stickig. Ein unangenehmer Geruch von verrottenden Pflanzen lag in der Luft. Durch die Spalten der Holzwände konnte man gerade erkennen, daß es draußen hell war. Ansonsten hatte er keine Ahnung, welche Tageszeit es war. Als die Schatten länger wurden und die Dämmerung in sein kleines Gefängnis zurückkehrte, beschloß Richard Honeydew, größere Anstrengungen zu seiner Befreiung zu unternehmen. Was ihn bei seiner Entführung am meisten beunruhigte, war die Tatsache, daß er immer noch nicht wußte, wer eigentlich dafür verantwortlich war. Als man ihn im Smith and Anvil kidnappte, war er an Händen und Füßen gefesselt worden und bekam einen Sack über den Kopf. Beim ersten Teil einer unbeschreiblich mühseligen Reise hatte man ihn quer auf ein Pferd gebunden und über ein Gelände geschleppt, das sich sehr hügelig anfühlte. Geschunden und atemlos, wurde er schließlich losgebunden und eingesperrt.

Sie verköstigten ihn einigermaßen gut, ließen ihm aber keine Bewegungsfreiheit. Er war immer noch gefesselt, und wenn einer zu ihm kam, wurden ihm die Augen verbunden. Gelegentliche Gänge, um sein Geschäft zu machen, führten nur zu weiteren Peinlichkeiten, denn man behielt ihn stets unter genauer Beobachtung. Sie wußten alles über ihn, aber er wußte nichts über sie. Außer daß sie ihm bisher nichts getan oder ihn bedroht hatten. Der Schuppen war sein drittes Gefängnis bisher, er war entschlossen, daß es auch das letzte sein sollte.

Einzelhaft war Folter.

Der Junge stand von seinem Schemel auf und hüpfte über den Boden; seine Fußgelenke waren fest verschnürt. In einer Ecke stand eine Holzkiste. Er beugte sich vor, um einen Haufen Rhabarberblätter herunterzufegen. Seine Handgelenke waren ebenfalls gefesselt, aber mit den Fingern konnte er die Kiste in die Mitte des Schuppens zerren, direkt unter den Mittelbalken. Über seinem Kopf saß ein großer, rostiger Haken in dem Balken, der als Keil in das Holz eingeschlagen worden war. Seine zackige Kante war seine einzige Hoffnung auf Rettung.

Als erstes mußte er diesen Haken erreichen, und das hieß, daß er auf die Kiste springen mußte. Das war wesentlich schwieriger, als er sich das vorgestellt hatte.

Er brauchte nur ungefähr einen halben Meter hochzuspringen, ein Kinderspiel für jemanden seines Alters, der auch noch gut tanzen kann. Doch seine ermüdende Gefangenschaft hatte ihn an Leib und Seele erschöpft, und die Fesseln hatten zu Krämpfen in Händen und Füßen geführt. Der erste Sprung war entschieden zu niedrig, der zweite auch nicht besser. Er riß sich zusammen, um sich zu konzentrieren, sprang hoch, erwischte aber nur die Kante der Kiste. Sie kippte um, er flog hart gegen die Wand des Schuppens, schlug sich den Kopf an dem groben Holz auf und spürte, wie das Blut durch seine Haare sickerte.

Richard Honeydew weigerte sich aufzugeben. Er biß die Zähne zusammen und versuchte es erneut. Er schüttelte sich am ganzen Körper wie ein nasser Hund, der aus dem Wasser kommt, hockte sich auf die Knie und stellte die Kiste in die richtige Position, dann stützte er sich darauf und kam auf die eigenen Füße. Diesmal absolvierte er ein paar Übungssprünge, bevor er den nächsten Versuch machte. Als er glaubte, daß es klappen würde, stellte er sich neben die Kiste, beugte die Knie, katapultierte sich hoch und brachte die Füße im richtigen Moment auf die Kiste. Sie wackelte wild hin und her, aber irgendwie behielt er das Gleichgewicht. Doch sein Triumph verwandelte sich in eine Enttäuschung. Selbst auf Zehenspitzen und mit ausgestreckten Armen war er immer noch ungefähr zwanzig Zentimeter von dem Haken entfernt.

Jetzt mußte er einen weiteren komplizierten Sprung machen. Falls er den Haken verpaßte, würde er noch härter zu Boden stürzen als vorher. Falls er mit der Hand eine falsche Bewegung machte, konnte er sich auf dem rostigen Haken aufspießen. Sein erster Gedanke war, die ganze Sache vollständig aufzugeben, doch dann dachte er an das Elend seiner Gefangenschaft und an die Schmerzen der Einsamkeit, weil er von seinen Freunden in der Theatergruppe getrennt war. Nicholas Bracewell würde niemals aufgeben in einer solchen Lage, und er durfte das auch nicht. Er mußte das Risiko auf sich nehmen. Er berechnete jede Bewegung ganz genau, dann sammelte er seine Kräfte für den Sprung.

Mehrere Minuten sorgfältiger Vorbereitung zerbarsten in dem Bruchteil einer Sekunde, als er die Knie beugte und hochsprang. Seine Hände kamen an dem Haken vorbei, die Handgelenke zuckten vor - und schon hing er frei in der Luft, mit dem ganzen Gewicht an den Handfesseln. Stechende Schmerzen zuckten durch seine Arme und Schultern, in seinem Kopf hämmerte es unerträglich. Er konnte kaum richtig atmen. Tief schnitten die Stricke in seine Handgelenke, an denen die Adern dick hervortraten. Die Schmerzen waren unerträglich; um ihn zu retten, mußte schon ein Wunder geschehen.

Doch er durfte keine Zeit verlieren. Je länger er an dem Haken hing, desto gefährlicher wurde es für ihn. Er sammelte seine letzten Kräfte und begann, mit den Beinen hin und her zu schwingen, langsam zunächst, doch dann mit mehr Schwung und in vollem Tempo. Die Schmerzen steigerten sich. Sein schlanker Körper troff von Schweiß, während er in der widerlichen Hütte in der Luft hing, die Stricke schienen seine Handgelenke abschneiden zu wollen. Die ersten Blutstropfen, die ihm ins Gesicht fielen, versetzten ihn in Panik, doch seine Qualen waren schon bald zu Ende. Die Reibung brachte Ergebnisse. Während die Stricke hart über die rostige Kante des Hakens rieben, wurden die einzelnen Fäden nach und nach durchgewetzt. In derselben Sekunde, in der er fast in Ohnmacht gefallen wäre, kam das Ende der letzten Faser. Sein Gewicht erledigte den Rest.

Richard Honeydew fiel von dem Haken herunter, warf die Kiste um und knallte zu Boden. Mehrere Minuten lang konnte er sich vor lauter Erschöpfung nicht bewegen, doch er lächelte triumphierend. Sein Plan war gelungen. Mit neuen Kräften setzte er sich aufrecht, band seine Füße los und bewegte Beine und Füße. Beide Handgelenke waren dick voll Blut, aber das machte ihm nichts. Er war frei. Die Tür war das letzte Hindernis. Sie war von außen verriegelt und rührte sich nicht, als er sich dagegenwarf, doch er benutzte List statt Stärke. Er schlug seinen Hocker so lange auf den Boden, bis eines der drei Beine abbrach, und das benutzte er jetzt als Hebel an der Tür. Er konnte einen Bretterspalt so erweitern, daß er mit seinem dünnen Arm durchgreifen und den Riegel von außen zurückschieben konnte.