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Nicholas wartete, bis der Schmerz nachließ, dann machte er eine Bestandsaufnahme der Lage. Er saß aufrecht an eine grobe Mauer gelehnt, unfähig, sich zu bewegen, wegen seiner Fesseln. Ihm gegenüber saß Richard Honeydow, den man am eisernen Fenstergitter festgebunden hatte. Seine Freude, den Jungen zu sehen, wurde überschattet von dem Zustand, in dem er ihn fand. Honeydews Gesicht war blutverschmiert, seine Kleider verdreckt und zerrissen. Er sah nicht so aus, als habe er viel zu essen bekommen, seit er entführt worden war. Gewissensbisse überfielen Nicholas. Anstatt den Lehrling zu retten, hatte er sich selbst einfangen lassen.

Er zerrte mit aller Kraft, doch die Fesseln hielten. Als er versuchte, zu sprechen, brachte er nur ein schwaches Grunzen zustande. Er hatte so viele Fragen, aber keine Chance, sie zu stellen. Als er sich nach Hilfe umblickte, fiel sein Blick auf die alten Mauern, deren Kalk abblätterte. Eine Idee bildete sich in seinem Kopf. Er drehte sich so weit herum, daß er die Beine heben und mit den Füßen ein einziges Wort in die Wand kratzen konnte.

WER?

Richard Honeydew reagierte auf gleiche Weise. Er zog sich am Fenstergitter hoch und schwang die Beine herum, bis sie die weißgekalkte Wand berührten. Im Halbdunkel ihrer stinkenden Zelle kratzte er langsam und mühselig einen Namen auf die Wand. Die Buchstaben waren krakelig und undeutlich, aber ihre Bedeutung um so wichtiger.

Nicholas Bracewell war wie vor den Kopf geschlagen. — Es war unglaublich.

*

Trotz allen Übels behielt Christopher Millfield seine gute Laune. Lange Gesichter und schlechte Nerven umgaben ihn, aber seine Spannkraft war bemerkenswert. Anstatt sich von der allgemeinen schlechten Laune beeindrucken zu lassen, war er heiter und behielt eine positive Grundeinstellung. Da er mit George Dart und den drei Schauspielschülern in einem Zimmer zusammenwohnte, hatte er ein reiches Betätigungsfeld.

»Morgen sieht alles schon viel besser aus«, sagte er.

»Es könnte kaum noch schlimmer werden«, stöhnte Dart.

»Für jedes Problem gibt es eine Lösung.«

»Aber wir haben so viele Probleme, Master Millfield.«

»Laß Hoffnung in dein Herz hinein, George.«

»Dafür ist kein Platz mehr da.«

Christopher Millfield lehnte sich vor und gab ihm einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. Als er vom Bett sanftes Schnarchen hörte, senkte er die Stimme, um die Schläfer nicht zu stören.

»Wir sind Schauspieler«, sagte er leise, »nichts darf unsere Kunst beeinflussen. Wenn einer unserer Lehrlinge verschwindet, nun, dann füllen wir seine Rolle mit einer anderen Stimme. Wenn sämtliche Kostüme gestohlen werden, dann bitten und betteln wir uns andere zusammen oder machen uns neue. All das sind nur Rückschläge, die wir überwinden können.« 

»Ihr vergeßt Master Bracewell.«

»Aber keineswegs, Sir. Ich habe größtes Vertrauen in ihn.«

»Und was ist, wenn er nicht zurückkommt?«

»Nick Bracewell wird zurückkommen«, sagte Millfield voller Vertrauen. »Ich habe noch nie einen fähigeren Mann am Theater getroffen. Die ganze Gruppe dreht sich nur um ihn, er würde sie in der Stunde der Not niemals im Stich lassen.«

»Ich dachte, Ihr mögt ihn nicht«, sagte Dart.

»Es gibt bei Westfield's Men keinen, den ich mehr respektiere, das gilt auch für Master Firethorn. Ich gebe zu, daß ich beleidigt war, als unser Regisseur Gabriel Hawkes an meiner Stelle vorschlug, aber das ist jetzt alles Vergangenheit. Mittlerweile kann ich die Wahrheit akzeptieren, George.«

»Die Wahrheit?«

»Gabriel war besser.«

»Zu mir war er immer freundlich.«         

Millfield seufzte. »Es tut mir weh, daß wir solche Rivalen waren. Unter anderen Umständen hätten Gabriel und ich gute Freunde sein können. Er war ein großer Verlust.« Die positive Stimmung kehrte zurück. »Das ist der Grund, daß ich so dankbar bin, daß ich mit der Gruppe reisen kann. Ich habe Vorteile durch Gabriels Tod gewonnen, und das bedrückt mich, aber es bestärkt mich auch in meiner Absicht, aus dieser Chance das Beste zu machen und mich durch Schwierigkeiten nicht unterkriegen zu lassen. Wir sind Leute, die Glück haben, George. Wir haben Arbeit. Denk mal darüber nach.«

Der andere tat, wie ihm gesagt wurde, und sank schon bald mit allerlei tröstlichen Gedanken in Schlaf. Millfield war ein echter Mann des Theaters. Was auch immer passierte, die Gruppe mußte trotzdem weitermachen. George Darts Schnarchen vereinigte sich mit den Schlafgeräuschen der anderen unschuldigen Kinder. 

Christopher Millfield wartete eine halbe Stunde, bevor er sich bewegte. Dann stand er auf, zog sich leise an und verließ den Raum. Ein paar Minuten später sattelte er ein Pferd und führte es auf mit Sackleinen umwickelten Hufen in den gepflasterten Hof.

Dann ritt er wohlgemut in die Dunkelheit hinaus.

*

Nicholas Bracewell war immer noch benommen. Sein Schädel hämmerte, seine Augen blickten trübe, Blut tropfte in seinen Nacken. Der Gestank in dem Schuppen war atemberaubend, sein Magen drehte sich um. Stramm gefesselt wie er war, schmerzte ihn jeder Muskel seines Körpers. Was ihn jedoch am meisten schmerzte, war die Tatsache, daß Richard Honeydew ihn in diesem Zustand sah. Der Junge brauchte dringend Hilfe, aber alles, was sein vermeintlicher Retter geschafft hatte, war, sich selbst in die gleiche Misere zu manövrieren. Schuldgefühle brannten wie Feuer in Nicholas Bracewell. Es half, sich auf ihre schwierige Lage zu konzentrieren.     

Das wichtigste war, daß er mit dem Jungen sprechen konnte, und das hieß, daß er den Knebel loswerden mußte. Mit den Knien konnte er ihn nicht abstreifen, deshalb sah er sich nach einem anderen Hilfsmittel um. Rechts von ihm an der Wand stand ein hölzerner Rechen. Weil er ihn mit den Füßen nicht erreichen konnte, zog er mehr und mehr Stroh auf sich zu, und das brachte das Werkzeug näher an ihn heran. Gleichzeitig rückten ihm auch Berge von Kot immer näher, und seine Schuhe waren schon bald davon verdreckt, aber er ließ nicht nach. Richard Honeydew beobachtete mit Interesse, wie sein Freund den Rechen näherzog und dann beide Beine hob, um die Füße heftig auf die Zacken des Rechens zu schlagen. Der Rechen schlug hoch, Nicholas mußte den Kopf einziehen, als der Schaft dicht neben ihm gegen die Wand schlug. Er klemmte das Gerät mit der Schulter ein und benutzte das Endstück, um den Knebel langsam nach oben zu schieben. Das war fürchterliche Arbeit und brachte ihm zahlreiche Stöße ins Gesicht ein, aber irgendwann schaffte er es, das Ding so weit zu verschieben, daß er sprechen konnte.     

Die Worte sprudelten neben tiefen Atemzügen aus ihm hervor.

»Wie geht es dir, Junge?«

Der Junge nickte tapfer mit dem Kopf, in seinen Augen glitzerte Mut.

»Bist du schwer verletzt?«

Richard Honeydew schüttelte den Kopf und machte ein Geräusch.

»Ich will versuchen, dich von deinem Knebel zu befreien, Dick.«

Mit seinem Körper und den Füßen stieß Nicholas den Rechen auf den Jungen zu, und der versuchte, Nicholas' Methode nachzumachen. Er brauchte viel länger dazu und holte sich manchen harten Schlag ins Gesicht, aber irgendwann schaffte auch er es, den Knebel aus dem Mund zu stoßen. Gierig füllte er die Lungen mit Luft, dann hustete er schrecklich.

»Die stinken uns hier drin noch zu Tode«, sagte Nicholas.

»Wie habt Ihr mich gefunden, Master Bracewell?«

»Das ist jetzt nicht wichtig, Dick. Hauptsache, ich kriege dich hier gesund heraus. Wie viele von ihnen sind hier?«