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Eine Stunde verging, dann ließ ihn ein Geräusch aus dem Schlaf hochfahren. Es war nicht mehr als das Quietschen einer Tür, doch es brachte ihn an das offene Fenster. Unten im Hof erblickte er eine Gestalt, die verstohlen zum Hoftor schlich - eine Gestalt, die inzwischen für nächtliche Wanderungen bekannt war. Es war Christopher Millfield, der sich zielstrebig bewegte. 

Irgend etwas drängte Nicholas, ihm zu folgen. Rasch stieg er die Leiter hinunter und verließ den Schuppen. Geduckt und mit viel Abstand folgte er dem anderen durch die Straßen und über die Ouse Bridge. In seinem Kopf wirbelte es vor lauter Spekulationen. Hatte er Millfields Freundschaft zu schnell akzeptiert? Konnte der Mann trotz allem irgendwelche finsteren Absichten haben? In der Nacht vor der Aufführung in Pomeroy Manor war der Schauspieler zum ersten Mal um Mitternacht verschwunden. Und kurz nach dem Auftritt von Westfield's Men war ihr Gastgeber verhaftet worden. Nicholas erinnerte sich an die Liste, die er in Quilleys Satteltasche gefunden hatte. Millfield war es gewesen, der wußte, daß sich hinter den Namen Katholiken verbargen.

Während seine Gedanken rasten, trugen ihn seine Füße auf einer anstrengenden Wanderung quer durch York. Der Verfolgte schien sehr genau zu wissen, wohin er ging. Sie passierten Blake Street und bogen in die Lop Lane, bevor Millfield stehenblieb und leise an die Tür eines Giebelhauses klopfte. Innerhalb von Sekunden betrat er das Haus, dann flammten Kerzen auf in einem Zimmer über der Tür. Das Fenster war nur angelehnt, Nicholas konnte das leise Murmeln von Stimmen hören. Welche Verschwörung hier auch immer ausgeheckt wurde, sie konnte entdeckt werden, wenn er etwas näher rankam.       

Nicholas blickte zur Straßenecke zurück und entdeckte einen überhängenden Giebel, der niedrig genug war, um vom Boden aus erreichbar zu sein. Er suchte sich einen festen Halt, zog sich hoch und kletterte die Wand empor, bis er das Dach erreichte. Er brauchte nicht lange, um von Dach zu Dach und Haus zu Haus zu klettern, bis er an das Fenster kam, das er suchte. Die Stimmen waren zu leise, als daß er sie hätte verstehen können, doch der Vorhang vor dem Fenster klaffte ein wenig auseinander, als er sich herunterließ.

Beschämung überkam ihn, als er ins Zimmer spähte. Hier ging es allerdings um keine politische Verschwörung. Christopher Millfield lag nackt auf einem Bett und küßte einen jungen Mann in seinen Armen mit einer Leidenschaft, die keiner Erklärung mehr bedurfte. Jetzt paßten weitere Puzzlesteine zusammen. Nicholas entsann sich seines koketten Umgangs mit Frauen, der aber offenbar nie darüber hinausging, und an Barnaby Gills Interesse an dem Schauspieler. Ferner erinnerte er sich an die Rede, die er im Gasthaus gehört hatte. Es war nicht nur Millfields Eitelkeit gewesen, die ihn dazu brachte, die Hauptrolle in dem Stück zu proben. Richard Löwenherz war ein Held, mit dem er gewisse Ähnlichkeit hatte. Obwohl die Welt ihn wegen seiner militärischen Leistungen anerkannte und bewunderte, war Englands populärster Monarch nicht ohne Fehler gewesen. Die Berichte über seine männlichen Liebhaber waren zu zahlreich und zu exakt, um völlig falsch zu sein. 

Nicholas schwang sich von dem Giebel herab und sprang wieder auf den Boden. Abartige Leidenschaften waren ein Verbrechen, das mit strengen Strafen geahndet wurde, aber er hatte nicht die Absicht, etwas zu unternehmen. Obwohl er von Millfield ein wenig enttäuscht war, nahm er ihm die Sache nicht übel. Der Mann hatte ein Recht auf seine privaten Vergnügungen, vor allem, wenn er mit so viel Diskretion zu Werke ging. Nicholas hatte sich unerlaubterweise eingemischt. Zerknirscht und mit dem Gefühl erheblicher Verärgerung über sich selbst machte er sich auf den Rückweg zum Gasthof. Er brauchte Schlaf, um sich für die Strapazen des kommenden Tages zu wappnen und konnte seine Zeit nicht damit verplempern, hinter seinen Freunden herzuspionieren. Während er die Brücke überquerte, schalt er sich, daß er sich so hatte in die Irre leiten lassen.     

In diesem Moment erblickte er die Leiche.

Vom Mondlicht schwach beleuchtet, trieb sie mit dem Gesicht im seichten Uferwasser des Flusses. Er lief hin und watete ins Wasser, um die Leiche zu packen. Sobald er das Gewicht des kleinen Körpers spürte und die Qualität des Wamses erkannte, wußte er, wen er vor sich hatte.

Master Oliver Quilley.

Nicholas zerrte ihn ans Ufer und drehte ihn auf den Rücken. Tote Augen starrten ihn an. In seiner Kehle steckte noch der Dolch des Mörders. Das Gesicht zeigte bereits eine beginnende Totenstarre. Doch es war die rechte Hand des Mannes, die seine Aufmerksamkeit erregte. Sie krampfte sich über etwas zusammen, als wolle sie es unter allen Umständen beschützen. Nicholas hatte Mühe, die Finger zu lösen und das Stück Pergament zu nehmen, das einmal das Porträt von Sir Clarence Marmion tragen sollte. Verschmierte Linien ließen sich in der Dunkelheit gerade noch erkennen. Als Nicholas es umdrehte, bekam er allerdings einen Schock.     

Quilley hatte das Pergament auf ein Bild geklebt, das er von einer Tarot-Karte ausgeschnitten hatte. Es zeigte einen Mann, der an einem Strick hing, mit dem man seine Füße gefesselt hatte. Nicholas kannte das Bild. Es war Der Gehenkte Mann. Gelegentlich wurde die Karte auch anders genannt.

Der Verräter.

11. KAPITEL

Banbury's Men schlurften trostlos über den Hof der Three Swans und beluden ihr Fuhrwerk. Nach ihrem Absturz am vergangenen Nachmittag zogen sie sich endgültig aus York zurück. Sie hatten abgrundtief versagt und würden keine zweite Chance mehr bekommen, um ihren Ruf wiederherzustellen. Ein würdevoller Rückzug war alles, was ihnen noch übriggeblieben war, und Giles Randolph handelte entsprechend. Als er sein Pferd aus dem Stall führte, kochte er immer noch vor Zorn über den Mann, der ihnen das eingebrockt hatte. Scruton, der sie sosehr auf der Erfolgsleiter nach oben gebracht hatte, riß sie jetzt in den Abgrund. Kein Gedanke mehr daran, ihn als Teilhaber in die Gesellschaft aufzunehmen. Von jetzt an würden Banbury's Men ohne ihn auskommen. Ihre einzige Zukunft lag in der besseren Qualität ihrer eigenen Stücke.

Randolph betrachtete sein armseliges Häuflein Schauspieler.

»Sind wir aufbruchbereit, meine Herren?«

»Ja«, kam die schwache Antwort.

»Dann wollen wir dieser unseligen Stadt den Rücken kehren.«

Er stieg auf sein Pferd und ritt zum Hoftor. Als er gerade hindurchreiten wollte, trat die stattliche Figur eines alten Mannes durchs Tor. Er trug ein elegantes schwarzes Wams, gleichfarbige Hosen und einen Federhut, der sein halbes Gesicht bedeckte. Der korrekt gestutzte graue Bart verriet Alter und Eleganz. Er trug einen Spazierstock und hob ihn hoch, als er das Pferd auf sich zukommen sah.

Randolph zügelte sein Pferd, um den Mann vorbeizulassen. 

»Einen guten Tag Euch«, sagte er freundlich.

»Guten Tag«, erwiderte der andere. »Wohin reist Ihr?«

»Überall hin, bloß weg von hier.«

»War York so unfreundlich zu Euch?«

»Ein ganz übles Nest!«

Giles Randolph trieb sein Pferd an, die Prozession bewegte sich durch das Hoftor. Der alte Mann winkte ihnen zu, während sie an ihm vorbeigingen, aber sie beachteten ihn kaum. Er setzte ein verschmitztes Lächeln auf und gratulierte sich im stillen zu seiner erstklassigen Verkleidung. Wenn selbst seine Schauspielerkollegen ihn nicht erkannten, dann war er vor jeder Entdeckung sicher.