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Seine zehn Jahre in der Pfarrei hatten ihn mit allen nur erdenklichen Problemen und Anblicken konfrontiert, doch nichts ließ sich mit dem vergleichen, was ihm jetzt bevorstand. Als er in einer Haltung glückseliger Unterwerfung vor seinem Altar kniete, sandte die sinkende Sonne verklärende Strahlen durch die bleiverglasten bunten Fenster, tauchte sein rundliches Gesicht in ein sanftes Glühen und umgab seinen kahlen Schädel mit einem goldenen Kranz. Als seine Gebete zu Ende waren, zog er sich am Altargitter hoch und beugte die Knie mit würdevoller Behäbigkeit.

Das Geräusch von Schritten ließ ihn sich umdrehen.

»Nun, Humphrey! Was soll diese Hast?«

»Ich muß Euch sprechen, Sir!«

»Das könnt Ihr auch, ohne wie ein ausgebrochener Stier hier hereinzustürmen. Dies ist das Haus Gottes, Humphrey, in dem wir uns mit entsprechendem Respekt zu bewegen haben. Bleibt dort, Mann.«

»Ich gehorchte Euch aufs Wort.«

»Und kommt wieder zu Atem, guter Mann.«

Humphrey Budden lehnte sich an eine Kirchenbank und atmete schwer. Er war ein großer, breitgebauter Mann mit blühender Gesichtsfarbe, der weiter gerannt war, als es seinen Beinen und Lungen guttat; er war schweißgebadet. Miles Melhuish ging durch den Mittelgang auf den schweißglänzenden Mann zu und überlegte, welche Art von Ereignis dieses untypische Verhalten hervorgerufen hatte. Budden war in der Stadt eine respektierte Person, ein gewissenhafter Hersteller von Spitzen, der dazu beigetragen hatte, daß Nottingham in diesem Gewerbe seinen hervorragenden Platz behielt. Seit seiner Heirat im letzten Jahr war er der glücklichste Mann weit und breit, ehrlich, umgänglich, aufrecht, ein regelmäßiger Kirchgänger, der häufig großzügig spendete. Doch es war genau dieser Humphrey Budden, der jetzt keuchend Luft holte und wie ein Schwein am Spieß schwitzte.         

Der Pfarrer legte ihm tröstend einen Arm um die Schulter.

»Fürchte nichts, mein Sohn. Gott ist bei dir.«

»Ich brauche dringend seine Hilfe.«

»In welcher Sache, Humphrey?«

»Ich kann mich kaum dazu zwingen, Euch darüber zu berichten.«

»Beistand ist dir sicher.«

»Ich hab' das Geräusch noch in den Ohren.«

»Welches Geräusch?«

»Und der Anblick zermartert mir die Seele.«

»Du zitterst ja noch vor Schreck.«

»Ich kam auf schnellstem Weg hierher, Sir. Gott ist meine letzte Rettung.«             

»Wie kann Er dir helfen?«

Humphrey Budden biß sich verlegen auf die Lippen und räusperte sich. Es war viel einfacher, seine Sache in die Kirche zu bringen, als sie dort auch vorzutragen. Die Worte sträubten sich.

Miles Melhuish versuchte, ihm vorsichtig auf die Sprünge zu helfen.

»Hast du Schwierigkeiten, mein Sohn?«

»Ich nicht, Sir.«

»Deine Frau?«

»Allerdings.«

»Was macht der guten Frau zu schaffen?«

»Oh, Sir…«

Humphrey Budden begann hilflos zu weinen. Das Unglück, das ihn so ungestüm in die Kirche geführt hatte, hatte ihn der Sprache beraubt. Der Pfarrer schob ihn sanft in die Bank, setzte sich neben ihn und sprach stumm ein Gebet. Nach und nach gewann Budden die Kontrolle über sich zurück.

»Erzähl mir von Eleanor«, sagte der Priester.

»Ich liebe sie so sehr!«

»Ist vielleicht ein Unglück passiert?«

»Schlimmer, Sir.«

»Guter Gott! Ist sie dahingeschieden?«

»Sogar noch schlimmer als das.«

Melhuish holte die Geschichte aus ihm heraus. Selbst in der verworrenen Fassung war sie so schrecklich, daß der geistliche Herr seinen Umfang und seinen Aufenthaltsort vergaß. Er hob seinen Bauch mit beiden Händen an und lief schnellen Schrittes auf die Kirchentür zu, Budden dicht auf den Fersen. Sie rannten auf den Kirchhof und verließen ihn durch eine Pforte, die sie zur Angel Row brachte. Das Haus war nur ein paar hundert Meter entfernt, und obwohl die Anstrengung beide an den Rand der Erschöpfung brachte, legten sie keine Pause ein. Trotz ihres keuchenden Atems hörten sie ein Geräusch, das ihnen das Blut beinahe gerinnen ließ, und verdoppelten ihre Schritte.

Es war der Schrei einer Frau. Nicht der plötzliche Aufschrei von jemand, der großen Schmerz erleidet, auch nicht der gequälte Schrei der Sorge. Es war das unheimliche, anhaltende, schrille Heulen eines wilden Tieres, so intensiv und unnatürlich, daß es kaum aus einer menschlichen Kehle kommen konnte. Budden öffnete die Haustür und führte den Priester in einen Raum, in dem sich bereits einige Personen aufhielten. Vier verschreckte Kinder versteckten sich hinter den Röcken einer alten Dienstmagd und starrten mit entsetzten Augen zur Zimmerdecke hinauf.

Humphrey Budden gab ihnen einen beruhigenden Klaps und ging mit seinem Besucher nach oben. Während dieser paar Sekunden betete Miles Melhuish so intensiv wie schon lange nicht mehr. Das Geräusch war herzzerreißend. Er mußte sich zwingen, dem geschlagenen Ehemann ins Schlafzimmer zu folgen. Welcher fürchterliche Anblick erwartete ihn dort?

Als seine Augen sahen, was vor ihnen lag, bekreuzigte er sich auf der Stelle.

»Gütiger Gott im Himmel!«

»Eleanor!« rief Budden. »Frieden, gute Frau!«

Doch sie hörte ihn nicht. Das Heulen ging mit unverminderter Intensität weiter, ihre Hände rissen an ihren Haaren. Melhuish war wie vom Blitz getroffen. Dort vor ihm kniete eine völlig nackte, dralle Frau in den Zwanzigern auf dem Boden, schwankte hin und her und starrte ein Kruzifix an der Wand an. Das lange blonde Haar fiel ihr über den Rücken, bis auf die runden, hübschen, zitternden Pobacken. Eine Szene, die gleichzeitig so furchterregend und erotisch war, daß Melhuish für ein paar Sekunden den Blick abwenden und seine Rechtschaffenheit zu Hilfe rufen mußte.

Eleanor Budden befand sich in den Klauen irgendeiner unentrinnbaren Leidenschaft. Als ihr Heulen noch schriller wurde, lagen Schmerz und Lust darin, erlittene Qualen und genossene Freuden, das Elend der Verdammnis und die Freude der Rettung. Der Mund, der das Geheul ausstieß, war grimassenhaft verzerrt, doch auf ihrem Gesicht war ein glückliches Leuchten.

»Eleanor«, sagte ihr Mann. »Sieh nur, wer gekommen ist.«

Er winkte den Priester näher, bis dieser zwischen der Frau und dem Kruzifix stand. Sofort zeigte sich eine Wirkung. Das Geheul brach ab, ihr Mund schloß sich, die Hände berührten ihre Seiten, und ihr Körper schwankte nicht mehr. Das ohrenzerreißende Geheul wurde durch eine unheimliche Stille ersetzt, die fast genauso schlimm war.

Eleanor Budden blickte mit ehrfürchtigen Augen und einem Lächeln zu dem Priester auf. Endlich war das Fieber von ihr gewichen. Beide Männer wagten es, sich ein wenig zu entspannen, doch das war entschieden zu voreilig. Ein neuer Anfall packte sie. Sie warf sich nach vorne, packte den Pfarrer um die Hüften und wühlte ihr Gesicht in sein massiges Fleisch. Dabei stieß sie Töne aus, die als leises Winseln der Erregung begannen und sich rasch steigerten bis zu einem Schrei reiner Lust. Ihre starken Hände packten seine Pobacken, weiche Brüste drängten sich gegen seine Schenkel, gierige Lippen wühlten in seinem Schoß. Das Geräusch steigerte sich bis zum Höhepunkt, endete in einem Seufzer der puren Fleischeslust und ließ ihren Körper voller Leidenschaft erzittern.

Dann brach sie bewußtlos auf dem Boden zusammen.

Miles Melhuish betete immer noch hektisch.

Der Tod holte sich täglich seine Beute in den Straßen der Stadt und riß geliebte Menschen ins frühe Grab, doch die Bürger Londons hatten immer noch nicht genug. Stündlich überwältigte Trauer die Familien, doch immer noch gab es genug makabres Interesse, um große Menschenmengen auf den Weg nach Tyburn zu bringen, wo die Exekution stattfand. Todtraurige Menschen, die schmerzgebeugt neben den Sterbebetten gesessen hatten, fanden Entspannung, als sie sich in der Nähe des Galgens zusammendrängten. Eine öffentliche Hinrichtung war etwas wie eine Feier. In der brutalen, aber legalisierten Tötung irgendeines armseligen Kriminellen fanden sie eine merkwürdige Befriedigung und schickten ihn mit sadistischem Geheul auf seine letzte Reise. Was ihnen als brutale, eindringliche Warnung dienen sollte, wurde zu einer Quelle der Belustigung.