Ein Trompetensignal erklang, Edmund Hoode, in glänzender Rüstung, trug den Prolog vor. Die Musik begann zu spielen, die Handlung nahm ihren Lauf. Es gab keine einzige schwache Sekunde. Westfield's Men paßten ihren Stil in überragender Weise den Gegebenheiten der Bühne und dem Interesse der Zuschauer an, und sie schafften es, aus beidem das Maximum herauszuholen. Das Publikum hier war wesentlich ruhiger als das im Hof des Gasthauses, doch seine Konzentration ließ in nichts zu wünschen übrig.
Der Seneschall brachte sie zum Lachen, Berengaria entlockte ihnen Seufzer, der aufgespießte Kreuzritter trieb ihnen die Tränen in die Augen, und König Richard persönlich erfüllte sie mit Stolz, Engländer und Christen zu sein. Lawrence Firethorns Darstellung erreichte höchste Höhen und riß jeden mit sich, einschließlich Sir Clarence, der ganz offensichtlich fasziniert war. Während das Stück sich seinem packenden Ende näherte, beobachtete Nicholas den Gastgeber und bemerkte dabei etwas, was ihm zuvor entgangen war. Der alte Mann, der hinter Sir Clarence saß, trug einen Ohrring, der ihm bekannt vorkam. Eine perfekte Verkleidung wurde durch die Eitelkeit eines Schauspielers zunichte gemacht.
Fanfarenstöße und Signale brachten die Schlacht auf der Bühne ihrem Ende entgegen. Firethorn hielt seinen Truppen eine flammende Rede. Er rief sie gerade zu den Waffen im Dienste Gottes, als sich die Haupttür der Halle öffnete und sie auch schon hereinströmten. Zunächst glaubte das Publikum, diese Eindringlinge gehörten zum Stück und staunte über die große Zahl der Komparsen, die uniformiert und bewaffnet waren, doch sehr bald kamen die Zuschauer dahinter, daß diese Eindringlinge sehr echt waren. Sir Clarence Marmion war schneller als sie. Er schoß von seinem Sitz hoch, drückte die Geheimtür in der Eichentäfelung auf und rannte in den Gang. Der alte Mann folgte ihm mit überraschender Behendigkeit und erreichte die Tür, bevor sie sich wieder schloß. Kaum war er hindurch, zog er sie hinter sich zu. Nicholas beobachtete alles und verstand jetzt, warum der Gastgeber den letzten Sitz in der Reihe eingenommen hatte. Dort war er seinem Fluchtweg am nächsten.
Die gesamte Halle versank in vollständiges Chaos, als das Publikum sich erhob, um zu protestieren, und von den Soldaten brutal beiseite gestoßen wurde. Firethorn beendete seine letzte Rede, doch das Stück war bereits zu Ende. Das echte Drama fand inzwischen an einem anderen Ort statt. Nicholas Bracewell war bereits in voller Fahrt. Instinktiv rannte er in den Garten hinaus und sprintete die Eibenallee hinunter. Wenn die Geheimtür in der Wandverkleidung ein Fluchtweg war, dann mußte es irgendwo draußen einen Ausgang geben. Er glaubte zu wissen, wo der sich befand.
Er kam zu dem Kreis aus Rhododendronbüschen und drängte sich durch eine Lücke im Geäst. Was er vorhin gehört hatte, war das Wiehern eines Pferdes gewesen, und tatsächlich entdeckte er zwei, die an einen Pfosten gebunden waren. Hinter ihnen lag ein Mann in der Marmion-Uniform, dem das Blut aus einer tiefen Wunde in der Brust hervorsprudelte. Nicholas sprang über die Leiche zum dichtesten Teil des Busches und bog die Zweige zurück. Jetzt erblickte er eine schmale Tür in einem Erdhügel, der den Blicken durch das Geäst entzogen war. Er öffnete sie und fand sich in einem unterirdischen Gang wieder, der hier und da von blakenden Kerzen erleuchtet war. Er spürte einen Gestank nach Feuchtigkeit und Verwesung.
Nicholas schlug alle Vorsicht in den Wind und rannte in vollem Tempo durch den Gang. Er war ganz sicher, daß die Erklärung für all diese geheimnisvollen Vorgänge am Ende dieses Ganges zu finden sein würde und rannte wie wild der Wahrheit entgegen. Sein Laufen war entschieden zu unvorsichtig, was er dadurch zu spüren bekam, daß er auf losem Gestein ausrutschte und nach vorne auf den Boden schlug, wobei er sich den Kopf an einem Mauervorsprung aufschlug. Benommen und verletzt spuckte er ein Mundvoll Erde aus und spürte, wie ihm das Blut aus einer Wunde an der Schläfe das Gesicht herunterlief. Als er sich langsam aufrappelte, wurde ihm die Gefahr bewußt, in der er sich befand. Nicholas war vollständig unbewaffnet.
*
Es waren nicht nur Sir Clarence und Mark Scruton, die ein Problem darstellten. Offensichtlich hatte vor ihm jemand den unterirdischen Gang betreten, die Leiche in den Rhododendronbüschen ließ an seinen Absichten keinerlei Zweifel aufkommen. Nicholas mußte sich entschieden mehr in acht nehmen, zumal der Gang vor ihm in völliger Dunkelheit lag. Er kroch mit äußerster Vorsicht weiter und bemerkte schon bald einen Geruch nach brennendem Kerzentalg. Die Kerzen in diesem Teil des Tunnels waren offenbar gerade erst ausgelöscht worden. Nicholas verdoppelte seine Vorsicht.
Während er sich vorwärtstastete, stellte er fest, wie viele Spinnen und Insekten sich hier häuslich eingerichtet hatten. Als etwas seine Knöchel berührte, sprang er entsetzt zurück, doch dann hörte er ein verräterisches Trippeln hinter sich. Es war eine große Ratte. Er war dankbar dafür, daß Richard Honeydew nicht bei ihm war. Er durchbohrte die Finsternis mit den Augen, tastete sich langsam nach vorne und fand, daß der Tunnel immer bedrohlicher wirkte. Die Wände verengten sich, er hatte immer stärker das Gefühl, eingesperrt zu werden. Noch etwas anderes beunruhigte ihn.
»Ist da jemand?« rief er.
Es kam keine Antwort, doch er wußte, daß er nicht allein war.
Von weiter vorn klangen die Geräusche eines Handgemenges zu ihm, dann hörte er Sir Clarence einen wütenden Schrei ausstoßen. Nicholas begann zu rennen, wobei er von den Wänden abprallte. Vor ihm beleuchtete ein Licht eine eiserne Tür. Er stieß sie auf und fand sich in einer kleinen Kapelle wieder. Zwei Männer rangen in einem wilden Zweikampf.
Sir Clarence kämpfte mit dem alten Mann, der ihn verfolgt hatte, und riß ihm den falschen Bart ab. Mark Scruton versuchte, ihn von sich abzuschütteln und an seinen Dolch zu kommen. Bevor Nicholas sich noch einmischen konnte, ergriff der Schauspieler seine Chance. Er packte den Gegner mit festem Griff und schleuderte ihn hart gegen die Wand. Sir Clarences Kopf schlug hart gegen den Granit, mit einem Seufzer glitt er zu Boden und verlor sofort das Bewußtsein. Mark Scruton stand über ihm, dann fuhr er herum, um dem Eindringling entgegenzutreten. Mit dem Dolch in der Hand begann er Nicholas zu umkreisen.
»Ihr seid mir einmal zu oft gefolgt, Nick.«
»Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch noch mal zu sehen.«
»Es wird auch bestimmt das letzte Mal sein.«
Er machte einen Ausfall mit seiner Waffe, doch der Regisseur wich mit Leichtigkeit aus. Der Schauspieler lachte.
»Das hat nichts mit Euch zu tun, Nick«, sagte er, »Ihr hättet Euch da raushalten sollen.«
»Verbrechen dürfen nicht unentdeckt bleiben.«
»Ihr wißt entschieden zuviel, aber längst noch nicht genug, um die Wahrheit zu verstehen.«
»Ich weiß, daß Ihr einer von Walsinghams Männern seid.«
»Ich war es«, stimmte der andere zu. »Bis heute. Alles sollte hier in Marmion Hall sein Ende finden. Ich lieferte ihnen Rickwood, ich lieferte ihnen Pomeroy. Hier und heute sollte es mein letzter Auftrag als Spion sein. Danach sollte ich frei sein, um mich meinem richtigen Beruf am Theater zu widmen.«