Jeder bemühte sich, einen möglichst guten Platz zu erwischen.
»Tretet ein bißchen zur Seite, mein Herr, wenn ich bitten darf.«
»Aber selbstverständlich, Mistress.«
»Ich kann nichts außer Euren breiten Schultern sehen.«
»Kommt und stellt Euch vor mich.«
»Laßt mich hier durch.«
»Fester schieben, Mistress.«
Der großgewachsene junge Mann schob sich nach links, um für die alte Frau etwas Platz freizumachen. Aber obwohl sie durch dichtes Getümmel bis mitten ins Zentrum der Menschenansammlung vorgedrungen war, konnte sie immer noch nichts erkennen. Der junge Mann zuckte zurück, als er ihren ekelhaften Mundgeruch wahrnahm, doch ihre Ausdünstung vermischte sich rasch mit dem allgemeinen Gestank der Masse. Sie war eine Frau vom Land, trug einen Korb am Arm und zeigte durch ihre gebeugten Schultern, daß sie ein hartes Arbeitsleben hinter sich hatte. Ihre Lippen verzerrten sich zu einem zahnlosen, erwartungsvollen Grinsen.
»Seid Ihr weit hergekommen, Mistress?«
»Zehn Meilen oder noch mehr, Sir.«
»Den ganzen Weg für eine Hinrichtung?«
»Dafür würd' ich sogar zwanzig laufen.«
»Wißt Ihr, wer hier gehängt werden soll?«
»Ein Verräter, Sir.«
»Aber wie ist sein Name?«
»Der tut nichts zur Sache.«
»Für ihn bedeutet er aber viel.«
»Der bedeutet überhaupt nichts.«
»Ihr lauft zehn Meilen für jemand, der Euch vollkommen unbekannt ist?«
»Jawohl, Sir«, sagte sie mit bösartigem Vergnügen. »Den Tod für alle Verräter! Ich will sehen, wie sie ihm den Schwanz abschneiden!«
Rufe wurden laut, als sich der Henkerskarren dem Galgen näherte. Der Verurteilte hockte auf dem Boden, die Arme auf dem Rücken gefesselt, zwei Kerkermeister neben sich. Selbst in dieser erniedrigenden Haltung besaß er noch eine zerknitterte Würde. Zerlumpt, ungekämmt und von der Folter verstümmelt - dennoch machte er den Eindruck eines echten Edelmannes. Seine offensichtliche Gelassenheit im Angesicht des Todes reizte die Zuschauer zu wütendem Geschrei. All ihre Angst, ihr Haß, Zorn und Verzweiflung brachen in dem lauter werdenden Wutgeheul aus ihnen hervor.
Der junge Mann zeigte keine Regung, er betrachtete all das mit einer Art desinteressiertem Vergnügen. Der Gerechtigkeit wurde ohne Verzug zu ihrem Recht verholfen. Der Gefangene wurde auf die Plattform gehoben, wo ihm sein Urteil vorgelesen wurde. Dann bot man ihm den kurzen, tröstenden Besuch eines Priesters an, der seine Seele auf das vorbereiten sollte, was ihm bevorstand. Als er das ablehnte, wurde er dem Henker und seinem Gehilfen übergeben, vermummten Ungeheuern mit muskulösen Armen und der Fähigkeit, den Tod hinauszuzögern. Sie wußten, was sie zu tun hatten, und machten sich zügig an die Arbeit. Der Gefangene fing an, etwas in lateinischer Sprache zu rezitieren, doch seine Stimme ging im Gejohle des Mobs unter. Seine Lippen bewegten sich schwach, als man ihm die Schlinge um den Hals legte.
Der Strick wurde fest angezogen und überprüft, dann wurde der Hebel betätigt, der die Falltür öffnete und ihn einen ersten Blick in die Hölle werfen ließ. Sein Körper versteifte sich, als der Ruck ihn durchfuhr, dann zuckten seine Beine und Schultern, sein Mund öffnete sich, sein Gesicht wurde dunkelrot, und jede Ader und Sehne schien durch die Haut bersten zu wollen. Es war ein gräßlicher und widerlicher Anblick, doch den Zuschauern gefiel die Vorstellung, sie lachten, schrien und winkten dem Opfer mit sadistischer Fröhlichkeit und steigerten sich in eine bösartige Hysterie. Und in diesem Taumel vergaßen sie die Probleme ihres eigenen Lebens, während sie heiteren Sinnes der Hinrichtung zusahen.
Der Körper zuckte lange Zeit und schwang hin und her, bevor die Henker Zugriffen. Das Opfer schien sein Leben ausgehaucht zu haben, seine Augen waren geschlossen, sein Mund geöffnet, der Hals halb gebrochen. Zorniges Geschrei erhob sich aus der Meute, die sich um das Hauptvergnügen geprellt fühlte. Doch die Henker hatten keine Pfuscharbeit geleistet. Als das Opfer vom Strick abgeschnitten wurde, bewegte es sich kurz und stieß einen Seufzer aus. Der junge Mann war durchaus in der Lage, zu erkennen, was als nächstes geschah. Unter seinen geschwollenen Lidern warf er seinen Peinigern einen anklagenden Blick zu. Es war offensichtlich, daß er die Henkersknechte bestochen hatte, damit sie ihn am Galgen sterben ließen und ihm die weiteren Qualen ersparten, die zu seinem Urteil gehörten.
Die Henker hatten sein Geld mit ernstem Gesicht genommen und leichtfertig vergessen, was sie ihm versprochen hatten.
Der Verräter wurde das Opfer eines weiteren Verrats.
Man riß ihm die Kleider vom Leib und kastrierte ihn mit einem blitzenden Messer, was die Massen in noch größere Blutrünstigkeit versetzte. Jetzt folgte das rituelle Ausweiden. Die Henker schlitzten seinen Leib auf und rissen ihm die Eingeweide heraus, um sie vor seinen Augen zu verbrennen. Als sie mit der blutigen Leiche nichts mehr anfangen konnten, köpften sie den Kadaver und vierteilten ihn. Schließlich kam die systematische Schlächterei zu einem Ende. Die Zuschauer waren mit der Vorstellung zufrieden.
*
Christopher Millfield erlaubte sich ein schwaches Lächeln.
London war in Schweiß gebadet. Die faulige Verseuchung verbreitete sich im Gewirr seiner Straßen und Gassen. Den ganzen Tag läuteten die Glocken zu Totenmessen, Priester hetzten von einem Haus des Todes zum nächsten. Leichenbestatter verdienten ein Vermögen, und eine wurmzerfressene Generation von Kirchendienern scheffelte Geld, indem sie das Elend der Hinterbliebenen ausnutzte und die Beerdigungsgebühren erhöhte. Aasgeier mästeten sich an den verendeten Körpern ihrer Mitmenschen.
Die Flucht aus der Stadt nahm zu.
»Ich hasse es, die Stadt zu verlassen, Nick.«
»Hier können wir doch nicht bleiben.«
»Wo sie ist, da muß auch ich sein.«
»Das seid Ihr ja auch, Edmund«, sagte sein Freund. »Wenn sie Eure Verse hat, hält sie Euer innerstes Wesen in der Hand.«
»Daran hatte ich noch nicht gedacht.«
»Dann denkt jetzt dran. Eure Abwesenheit macht ihr Herz nur noch zärtlicher, und mit hübschen Briefen und zärtlichen Gedichten könnt Ihr diese Zärtlichkeit noch steigern. Eure Feder muß ihr das sagen, was Eure Lippen ihr nicht sagen können.«
»Das klingt wirklich tröstlich.«
»Umwerbt sie aus jedem Ort in ganz England.«
»Welch ein Willkommen werde ich erleben, wenn ich zu ihr zurückkehre!«
Edmund Hoode strahlte. Es war immer hilfreich, mit Nicholas Bracewell über persönliche Probleme zu sprechen. Der Regisseur war ein Mann von Welt und besaß großes Verständnis für die wunderlichen Launen der Liebe. Seine Ratschläge waren immer vernünftig, sein Mitgefühl grenzenlos. Hoode hatte schon häufig Grund zu Dankbarkeit gehabt, und auch jetzt überkam ihn dieses Gefühl. Nicholas hatte ihm bewiesen, daß ein beglückender Kompromiß möglich war. Es war keine Desertion, die Stadt zu verlassen. Er konnte auch aus der Ferne das Herz seiner Angebeteten umwerben. Das würde ihm exquisite Schmerzen der Einsamkeit bescheren und den Zauber der Erfüllung noch steigern. Wenn er nach London zurückkehrte.