»Eine teuflische Seuche«, stimmte Nicholas zu.
»Ich rede nicht von der Pest.«
»Wovon denn dann?«
»Von dieser anderen tödlichen Krankheit. Sie hat Gabriel Hawkes niedergestreckt und wird auch uns niederstrecken, wenn die Zeit gekommen ist.«
»Was sagt Ihr da?«
»Ich rede vom Theater, Nick. Das Fieber im Blut, das jeden von uns dem Wahnsinn und unserem Grab nähertreibt.« Hoode lachte bitter auf. »Wer außer einem kranken Mann würde sich diesen Beruf aussuchen? Wir beide sind über jede Heilung hinaus infiziert. Wir haben den Bazillus falscher Hoffnungen und leeren Ruhms gefangen. Das Theater bringt uns noch alle um.«
»Nein«, sagte Nicholas. »Es erhält uns am Leben.«
»Aber nur, damit wir noch viel größere Leiden erdulden.«
»Der Tod unseres Freundes hat Euch schwer mitgenommen.«
»Er ist von seinem Beruf umgebracht worden.«
»Oder von jemand, der seinen Beruf hat.« Nicholas blieb stehen. »Gabriel Hawkes starb nicht einfach nur an der Pest. Die Seuche hätte ihn niemals so schnell dahingerafft, wenn es keine Mithilfe von anderer Seite gegeben hätte.«
»Hilfe?«
»Er ist ermordet worden, Edmund.«
*
Wie ein echter Schauspieler konnte Lawrence Firethorn der Versuchung nicht widerstehen, vor einem gebannten Publikum eine Rede zu halten. Westfield's Men waren an diesem Morgen im Queen's Head versammelt. Da dieser Gasthof ihre Heimat in London gewesen war, war es auch der richtige Ort, ihre Tournee zu beginnen. Die Gruppe versammelte sich in dem Raum, der bei Aufführungen als Kostümzimmer genutzt wurde. Ein großes Abenteuer stand ihnen bevor.
Alle waren da, auch Barnaby Gill, Rowland Carr, Simon Dowsett, Walter Fenby, der grinsende George Dart und Richard Honeydew sowie die anderen Schauspielschüler. Edmund Hoode saß bleich und trübsinnig am Fenster. Christopher Millfield lehnte in lässiger Haltung an einem Balken. Nicholas Bracewell stand im Hintergrund, weit genug weg, um der vollen Wucht von Firethorns Rede zu entgehen, dennoch nahe genug, um die Wirkung der Lektion auf die Mitglieder der Gruppe beobachten zu können.
Noch jemand befand sich im Raum, wie ein Geist bei einem Fest - das war der hohlwangige Alexander Marwood, der glücklose Wirt des Queen's Head. Klein, mager und allwöchentlich kahler werdend, hatte Marwood eine ungute Beziehung zu Westfield's Men, deren Kontraktverlängerung er regelmäßig als eine Folter betrachtete. Er empfand nicht das Geringste für das Drama an sich, hielt sogar die immer wieder erfolgende Invasion von Schauspielern und Theaterstücken für etwas so Entsetzliches, daß sein nervöser Gesichtstick nicht mehr zur Ruhe kam. Westfield's Men waren eine Gefahr für Haus und Hof, für seinen guten Ruf, für seine weiblichen Dienstboten und für seinen Verstand. Ohne sie ging es ihm bestimmt besser. Doch jetzt, als sie gingen und seinen Gasthof gegen die Landstraße eintauschten, jetzt, als sie seine Kneipe nicht fast jeden Nachmittag mit durstigen Zuschauern füllten, jetzt, als er vor seinem inneren Auge leere Schankräume, unverkauftes Bier und schwindende Gewinne sah - jetzt wurde ihm klar, daß sie in Wirklichkeit die Grundlage eines Lebensunterhalts gewesen waren.
»Verlaßt mich nicht«, sagte er wehleidig.
»Wir kommen ja wieder zurück, Master Marwood«, versprach Nicholas.
»Man wird die Gruppe sehr vermissen.«
»Wir gehen ja nicht freiwillig fort.«
»Diese Seuche ist wie ein Fluch auf uns!«
»Vielleicht hat sie aber auch etwas Gutes.«
Ein Gutes war es, dem trübseligen Wirt zu entkommen und seine endlose Litanei von Beschwerden nicht mehr hören zu müssen. Nicholas hatte nicht lange gebraucht, um diesen guten Aspekt zu entdecken. Er war derjenige, der am meisten mit Alexander Marwood zu verhandeln hatte und folglich auch am meisten unter seiner ewigen Melancholie litt. Das war eben eine der Pflichten, die Firethorn ihm listig zugeschoben hatte.
Der Erste Schauspieler stand auf und hob die Hand. Es wurde still. Er wartete eine volle Minute.
»Meine Herren«, begann er, »dies ist ein besonders wichtiger Tag in der Geschichte unserer Theatergesellschaft. Nachdem wir London bezwungen haben und uns die Stadt zu Füßen liegt, begeben wir uns jetzt auf eine triumphale Reise durch das ganze Königreich, um unsere Kunst noch weiter zu verbreiten. Westfield's Men haben eine heilige Aufgabe.«
»Und was ist mit mir?« winselte Marwood.
»Ihr habt ja schon Eure eigene Aufgabe, guter Herr.«
»Nennt sie mir.«
»Schlechtes Bier für gutes Geld zu verkaufen.«
Allgemeines Gelächter erfüllte den Raum. Jetzt, da sie das Gasthaus verließen, konnten sie es sich leisten, den übellaunigen Wirt zu verspotten. Er war kein beliebter Mann. Neben der heftigen Abneigung gegen die Schauspieler hatte er noch einen weiteren unangenehmen Fehler. Er bewachte die Keuschheit seiner halbwüchsigen Tochter entschieden zu streng.
»Unsere Abreise von hier ist nicht ohne Trauer«, sagte Firethorn. »Wir sind im Queen's Head lange Zeit willkommene Gäste gewesen, Master Marwood gebührt unser Dank für seine unbegrenzte Gastfreundschaft.«
Unterdrücktes Gelächter. Eines Tages würden sie wieder zurückkommen.
»Nur, wenn wir etwas hinter uns lassen, erkennen wir seinen wahren Wert. Das gilt auch für unser schönes Theater hier.« Firethorn umfaßte das ganze Gasthaus mit seiner Geste. »Wir werden es wegen seiner Wärme, seiner Magie und seiner vielen Erinnerungen vermissen. Aber gleichzeitig, Master Marwood, denke ich, daß Ihr Westfield's Men vermissen werdet, und hoffe, daß Ihr ein geisterhaftes Echo unserer Arbeit vernehmt, die wir hier geleistet haben, jedesmal, wenn Ihr über Euren Hof geht.«
Lawrence Firethorn schaffte das Unmögliche. Er schaffte es tatsächlich, dem Auge des Gastwirtes eine Träne zu entlocken. Jetzt wurde es Zeit, seine Gruppe aufzumuntern.
»Gentlemen«, fuhr er fort, »wenn wir London verlassen, dann verlassen wir es als Botschafter. Wir nehmen unsere Kunst mit uns auf die Landstraßen und Nebenstraßen Englands, und zwar unter dem Banner Lord Westfields. Sein Name ist unsere Ehrenspange, wir dürfen nicht zulassen, daß sie beschmutzt wird.« Firethorn deutete auf eine imaginäre Landkarte vor sich. »Wir reiten nach Norden, Sirs. Wir werden unterwegs viele Orte besuchen, doch unser wirkliches Ziel ist York. Dort haben wir im Auftrage unseres Schirmherrn eine besondere Aufgabe. York ruft uns.«
»Dann sollten wir vorwärtsmachen«, sagte Gill ungeduldig.
»Nicht in einer Stimmung der Resignation, Barnaby.«
»Mein Lächeln ist heute nicht zu Hause.«
»Es ist der Geist, über den ich spreche, Mann. Wir dürfen hier nicht losgehen wie eine Horde von Verirrten, die kein festes Zielt hat. Unser Ziel ist da, wenn wir es wirklich sehen wollen. Diese Reise ist eine Pilgerfahrt. Wir sind Pilger, die ihre Geschenke ins Heilige Land bringen. Gebt York einen anderen Namen, dann wird es eure Sinne auf ein höheres Ziel lenken. Ich sprach vom Heiligen Land. York ist unser Jerusalem.«
George Dart war so begeistert von der Rede, daß er freudig applaudierte. Barnaby Gill gähnte, Edmund Höode sah aus dem Fenster, und Christopher Millfield strengte sich an, ein Grinsen zu unterdrücken, doch die Mehrheit der Gruppe war begeistert von dem, was sie soeben gehört hatte. Jeder einzelne von ihnen hatte beim Gedanken an diese Reise schlimme Vorahnungen. Es war eine Reise ins Unbekannte, voller Gefahren, doch Firethorns Worte hatten interessant geklungen. Jetzt, da seine Rede sie angeregt hatte und weil sie die besänftigende Wirkung einer Illusion brauchten, versuchten sie, ihre Reise nach York in einem neuen Licht zu betrachten.
Wie eine Reise nach Jerusalem.
Tränen des Schmerzes überfluteten den Innenhof des Queen's Head. Als die Gruppe ins Freie trat, um die erste Etappe ihrer Reise zu beginnen, erblickte sie feuchte Augen und hörte sehnsüchtige Seufzer. Einige der Schauspieler waren verheiratet, andere hatten Freundinnen, die meisten hatten sich bei den leicht zu beeindruckenden Mädchen von Cheapside beliebt gemacht. Herzallerliebste wurden umarmt, Gedenkstücke ausgetauscht, Versprechen gemacht, Küsse in verschwenderischer Fülle verteilt. Angewidert wandte Barnaby all dem den Rücken zu; George Dart beobachtete alles mit einer Mischung aus Neid und Bedauern. Zu ihm kam kein Liebchen, um ihm den Abschied zu versüßen, kein Schatz hängte sich ihm um den Hals. Das war so gemein. Christopher Millfield lachte und scherzte mit fünf jungen Frauen, jede einzelne eindeutig total in ihn vernarrt. Vielleicht besaß George Dart nicht die gleiche Größe, Eleganz oder das gute Aussehen Millfields, doch auf seine eigene Art war er durchaus eine selbständige Persönlichkeit.