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»Hilf mir«, flüsterte er, »liebe Mutter, hilf mir.«

Zuerst hatte ich nicht gesehen, was ihm fehlte, doch jetzt sah ich die entsetzliche Wunde in seinem Bauch, aus der die Eingeweide hervorquollen. Würgend drehte ich mich weg, doch mit letzter Kraft klammerte er sich an meinen Arm und kreischte: »Töte mich, töte mich, töte mich!«

Er ließ mich nicht gehen. Ich stach auf ihn ein, bis sein Arm zu Boden fiel, die Schreie aufhörten. Selbst dann konnte ich nicht aufhören. Ich stach immer noch auf ihn ein, als Ben mich fand.

Ich hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Langsam senkte ich sie, fürchtete, immer noch auf diesen Wiesen zu sein, aber ich befand mich im Studierzimmer bei Lord Stonehouse, dessen Gesicht so kalt war wie der Frost in jener Nacht. Mein schweißnasses Hemd klebte an mir, aber ich zitterte, als befände ich mich immer noch auf diesem eisigen Feld.

»Hast du Richard gefunden?«

»Ich weiß es nicht, Mylord.«

Er starrte auf den Umhang. »Hast du ihn getötet?«, sagte er leise.

»Ich weiß es nicht. Versteht Ihr denn nicht? Ich weiß nicht einmal, an was davon ich mich tatsächlich erinnere und was Teil des Albtraums ist.«

Er stand auf. »Hast du meinen Sohn getötet?« Er hatte unvermittelt die Stimme gehoben.

»Ich weiß es nicht!«, schrie ich ihn meinerseits an.

Die Tür flog auf, und die Diener, die stets draußen warteten, eilten herein. Lord Stonehouse scheuchte sie mit einer ungeduldigen Geste fort, und sie stolperten beinahe übereinander, als sie versuchten kehrtzumachen, sich zu verbeugen, zu verschwinden und die Tür hinter sich zu schließen, und das alles gleichzeitig. Nun konnte ich nur noch unsere stoßweisen Atemzüge hören. Lord Stonehouse verlor so selten die Beherrschung, dass er ganz unvertraut wirkte. Er tastete mit der Hand über den Schreibtisch, als wollte er sich vergewissern, dass er noch da war, dann setzte er sich und faltete Richards Umhang zu einem akkuraten Rechteck, bis seine Hände aufhörten zu zittern. Er wandte sich den Briefen zu, und ich erzählte ihm, wie ich sie gefunden hatte.

Briefe, Papiere, waren sein täglich Brot, und er konnte schneller die Spreu vom Weizen trennen als jeder andere, den ich kannte. Hastig überflog er die Seiten.

»Das hatte ich mir schon gedacht.«

Kein Wort über mich, dass ich sein Enkel war, nichts. »Ihr habt Euch das gedacht?«

»Ich bin kein Narr.« Er beugte sich vor, sein Blick bösartig und mitleidlos wie der des Falken, den seine Vorfahren als Wappentier gewählt hatten. »Zum letzten Mal. Hast du meinen Sohn getötet?«

Dieser Blick gab mir das Gefühl, bereits auf halbem Weg zum Galgen zu sein, und holte unerwartet aus mir heraus, nicht was er fürchtete zu hören, sondern wovor mir graute. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich meinen Freund getötet habe.«

Das war’s. Ich hatte laut ausgesprochen, was ich mir nie zuvor eingestanden hatte. Ich hatte es immer gewusst, doch die Erinnerung war mir immer wieder entglitten und hatte sich beharrlich verborgen gehalten. Jetzt hatte ich es ausgesprochen. Es zugegeben. Ich empfand, zusammen mit einer Woge der Trauer, tiefe Erleichterung. Jetzt konnte ich tun, wovor ich mich seit dieser Nacht am meisten gefürchtet hatte. Ich konnte zu Charity gehen, ihr seinen Ring geben und erzählen, wie Luke starb.

Lord Stonehouse machte eine Bewegung mit der Hand, die mir zeigen sollte, dass er das, was ich gesagt hatte, für unwichtig und unbedeutsam hielt. Für ihn mochte das vielleicht nicht weiter von Bedeutung sein. Man erzählte sich, dass er keine Freunde hatte. Diese Geste, mit der er jemanden, den ich liebte, zu einer Belanglosigkeit reduzierte, machte mich unendlich wütend. Seine Hand griff nach der Glocke, um die Diener zu rufen, doch ich scherte mich nicht länger darum, wer er war, was er sagte oder was er für mich getan hatte. Ich stürzte nach vorn, beugte mich über ihn und umklammerte die Schreibtischkante.

»Er war mein liebster Freund. Wenn ich ihm nicht zugerufen hätte, innezuhalten, hätte Luke Euren Sohn getötet. Stattdessen hat Richard ihn umgebracht.«

Die Worte schnürten mir die Kehle zu. Er hatte die Hand noch immer an der Glocke. Seine Stimme war kalt, und in ihr lag Skepsis. »Warum hast du deinem liebsten Freund zugerufen, innezuhalten?«

»Warum? Weil Richard nicht nur Euer Sohn, sondern auch mein Vater ist! Glaubt Ihr, Mylord, dass es, nachdem ich ihn gefunden hatte, mich danach verlangte, ihn zu töten?«

»Nach dem, was du erzählt hast, hat er versucht, dich zu töten.«

»Nach dem, was ich erzählt habe? Fragt Eure Dienerschaft in Highpoint. Wie viele Beweise braucht Ihr noch? Ihr habt uns dazu erzogen, einander zu hassen. Zuerst habt Ihr versucht, Richard zu etwas zu machen, das er nicht ist … und dann habt Ihr mich gefunden.«

Verärgert läutete Lord Stonehouse die Glocke. Die Diener sprangen herbei und bauten sich neben mir auf. Angespannt ballte ich die Fäuste. Ich würde mich nicht fortzerren lassen wie zuvor. Lord Stonehouse nippte an seinem Wein, der stets auf seinem Schreibtisch stand, tupfte sich die Lippen ab und befahl den Männern, seinen Sekretär zu rufen.

Als sich die Tür hinter ihnen wieder schloss, sagte ich: »Ich glaube, mein Vater hat es selbst nicht über sich gebracht, als es schließlich so weit war. Oder vielleicht«, fügte ich verbittert hinzu, »bin ich naiv, und das ist nur, was ich glauben möchte.«

Lord Stonehouse fuhr zusammen, als das Kohlefeuer in sich zusammenfiel. Eine Flamme erhellte sein faltiges Gesicht, das die Farbe von altem Pergament hatte. Er starrte auf das Bündel Briefe, die an meine Mutter gerichtet und teils voller Täuschung, teils voller Liebe waren, aber vielleicht war auch das wieder nur etwas, das ich glauben wollte. Er las eine Seite, dann eine andere. Der Sekretär, Mr Cole, trat ein und blieb in der vorgeschriebenen Position stehen, die Beine leicht auseinander, einige Akten unter dem Arm. Eine von ihnen trug, wie ich feststellte, den Titel Mr Richard.

Lord Stonehouse war mit den Briefen fertig, stieß sie mit den Fingerspitzen zu einem ordentlichen Rechteck zusammen und legte sie in die Schublade, die erste rechter Hand, von der ich mittlerweile wusste, dass sie Richard zugedacht war. Dann schloss er die Schublade ab und wandte sich an seinen Sekretär.

»Mr Cole, ich glaube, wir haben eine Übereinkunft mit Mr Neave?«

Mit einer überschwänglichen Geste zog der Sekretär das Dokument hervor, das er bezeugt und ich unterschrieben hatte – damals, vor ewigen Zeiten, als ich ein arroganter Jüngling voll Gewissheit und voller Ideale war. Diese Arroganz zeigte sich selbst in meiner Unterschrift mit diesem lächerlichen Schnörkel darunter, auf die ich so stolz gewesen war und die mich jetzt erschaudern ließ.

»Ich glaube, es war ein Anhänger gegen den Besitz des …«

»Half Moon Court, Mylord.« Mit einer weiteren überschwänglichen Geste legte Mr Cole ein Dokument, gewichtig durch Siegel und Juristensprache, vor mich hin.

Ich quittierte den Empfang. Diesmal war meine Unterschrift schlicht und ohne jeden Schnörkel. Lord Stonehouse warf einen Blick darauf und dann auf die andere, machte indes keine Bemerkung dazu. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ich entlassen war. An der Tür wandte ich mich noch einmal um.

»Und … die Hochzeit, Mylord?«

»Was? Ach ja. Die Tochter vom alten Black. Warum sollte ich dir im Weg stehen? Dich zu etwas machen wollen, das du nicht bist, hm?«

Noch ehe er den Satz beendet hatte, war er bereits wieder in die Akte vertieft, die Mr Cole ihm vorgelegt hatte, zurück in seiner vertrauten Welt der Papiere.

43. Kapitel

Sie sprachen über Richards Akte. Lord Stonehouse würde nicht ruhen, ehe er nicht wusste, was seinem ältesten Sohn zugestoßen war. Zweifelsohne instruierte er Mr Cole bereits, herauszufinden, ob ich ihn getötet hatte. Kein Wort darüber, dass ich sein Enkel war. Nichts. Ich war Mr Neave. Sein Vater gehe sparsam mit seinen Gefühlen um, hatte Richard gesagt. Sparsam? Gefühle? Alles, worum er sich sorgte, war sein ältester Sohn, das Erbe, das Vermögen! Mit solcherlei Gedanken quälte ich mich herum, bis mir klar wurde, dass Richard genau dasselbe empfunden haben musste, nachdem er mein Bild zum ersten Mal gesehen hatte.