Ich hatte es seit vielen Monaten nicht mehr geöffnet, und Gott weiß, dass ich jetzt einen Rat brauchte. Vor dem Fenstersims fiel ich auf die Knie und schlug das Buch auf, wo der Zufall es wollte, wie Susannah es getan hatte, wobei ich nur im Neuen Testament suchte, nicht im Alten, da das für mich für die blutige Vergeltung von Edgehill stand. Ich schloss die Augen, schob den Finger zwischen die Seiten, wie Susannah es immer gemacht hatte, und öffnete das Buch, um die Textstelle im Johannesevangelium zu lesen, in der Jesus die Fünftausend speist, mit fünf Brotlaiben und zwei Fischen. Ich starrte den Text an, aber ich begriff nicht, welche Bedeutung er für mich hatte. Das einzige Brot im Haus war trockenes Roggenbrot, und es war viel zu schwer, um es überhaupt zu brechen, ganz zu schweigen davon, Fünftausend zu ernähren.
Ich grübelte darüber nach und rätselte herum, doch ich hatte weder Susannahs Glauben noch Matthews List, um eine Bedeutung darin zu erkennen, bis ich das Buch schließlich mit einem Knall schloss, es in mein Bündel stopfte und zur Tür ging. Das Haus bebte, aber es war nicht die Erschütterung durch die Presse. Es war eine vorbeifahrende Kutsche, und zwar keine Mietkutsche, in der man bis auf die Knochen durchgeschüttelt wurde, sondern ein Zweispänner. Ich sah, wie sich die edlen Pferde vorsichtig durch die schmale Einfahrt drängten. Blitzartig ging mir auf, dass allein mein Mangel an Glauben, mein Beharren darauf, dass es ein Rätsel sein müsse, obwohl es keins war, verhindert hatten, dass ich das Offensichtliche sah. Susannah hätte die Bedeutung der Textstelle sofort erkannt. Ein Wunder würde geschehen! Skeptiker mögen vielleicht sagen, das wahre Wunder läge darin, dass ich, wenn ich nicht über die Textstelle nachgegrübelt und gerätselt hätte, mein Bündel schon längst geschultert hätte und unerreichbar auf der Straße unterwegs gewesen wäre.
In diesem Moment wusste ich mit absoluter Gewissheit, dass Lord Stonehouse, überwältigt von Gewissensbissen über den Hass, den er zwischen Vater und Sohn gesät hatte, gekommen war, um mich um Verzeihung zu bitten. Ich sah in ihm wieder den freundlichen alten Edelmann, der mich in die Arme genommen hatte, nachdem ich mich mit Pech verbrannt hatte. Große Schätze. Das war genau das, was Matthew in dem Anhänger vorhergesehen hatte. Es war genau das Ende, das eine Geschichte oder Ballade haben sollte. Das ganze Haus war in Aufruhr, als ich die enge Wendeltreppe hinunterrannte und mit Mrs Black zusammenstieß, die Jane kreischend zurief, ihr bestes Kleid zurechtzulegen, während Mr Black und Nehemiah mit weit aufgerissenen Mündern aus der Werkstatt traten.
Nur Sarah, die sich die Hände an einem Tuch abwischte, schien ungerührt. »Er wird das Ding niemals hier rein bekommen«, sagte sie.
Ich rannte auf den Hof, rutschte auf dem Eis aus und fiel, so dass ich erst auf die livrierten Beine eines Lakaien blickte, dann in die verächtlich dreinschauenden Augen von Jenkins, meinem alten Feind vom Bedford Square, der gerade die Treppe aufstellte, damit die Countess aussteigen konnte.
44. Kapitel
Sie waren eingeschüchtert, aber sie liebten sie. Nie wieder traf ich einen Menschen, der im selben Atemzug so bezaubernd und abweisend zugleich sein konnte. Lucy Hay machte Mrs Black Komplimente über den auserlesenen Stoff ihres Tuches (»Wer beliefert Euch?«) und lobte Mr Black, er sei Londons Stimme der Freiheit (einen Satz, von dem ich schon jetzt wusste, dass er ihn hier und da mit gebührenden Dankesbezeugungen anbringen würde) und bat um die Erlaubnis, Anne und mich allein sprechen zu dürfen.
Ich fürchtete, sie wollte Anne sagen, sie stünde mir im Weg. Anne erging es meiner Meinung nach ebenso, denn sie weigerte sich, herunterzukommen. Nur die grässlichsten Drohungen ihrer Eltern brachten sie schließlich nach unten, mit sehr blassem Gesicht und repariertem Kleid. Die letzten Kohlen wurden auf das Feuer geworfen, Wein in unsere Hände gedrückt, und dann ließ man uns allein. Die Countess behielt ihren Pelzumhang an, denn die Kohlen, die Sarah auf das Feuer gehäuft hatte, hatten dieses praktisch erstickt. Sie nippte an ihrem Wein, verzog das Gesicht und goss, nachdem ich meinen mit einem Schluck heruntergespült hatte, den Rest in mein Glas.
»Habt Ihr die Neuigkeiten von Richard Stonehouse gehört?«, sagte sie in einem Tonfall, aus dem man schließen konnte, dass sie sicher war, dass wir nichts gehört hatten. Ich wurde sehr still und war mir plötzlich sicher, dass man seine Leiche gefunden hatte. Normalerweise machte Lucy Hay sich – meist zum Verdruss ihres Gegenübers – ein Vergnügen daraus, andere mit Auskünften hinzuhalten, die niemand außer ihr kannte. Doch jetzt sah sie meinen Gesichtsausdruck und sagte schnelclass="underline" »Er lebt. Und ist quicklebendig.«
Auf meine Erleichterung folgte Verwirrung. Das, und was ich zu Lord Stonehouse gesagt hatte, machte jede Hoffnung auf eine gute Stellung bei ihm zunichte. Er hatte keinen Kontakt zu mir aufgenommen, um mir dies mitzuteilen, obwohl Richard mein Vater war und er zumindest eine Ahnung von den Qualen haben musste, die ich durchgemacht hatte. Ein Wunder! Lord Stonehouse von Gewissensbissen überwältigt. Was für ein idiotischer Narr ich doch war! Ich sollte mich wieder meinen Balladen und Flugschriften widmen – das war alles, was ich zuwege brachte. Ich hörte kaum zu, was die Countess zu sagen hatte. Richard hatte sich hinter die royalistischen Linien zurückgezogen. Er war jetzt Sir Richard, erzählte sie uns. Zurzeit hielt er sich im Gefolge der Königin in Frankreich auf, um englische Soldaten aus den europäischen Armeen zu rekrutieren. Mir blieb immer noch genügend Tageslicht, um aufzubrechen. Ich starrte mein Bündel an, das ich bei der Tür fallen gelassen hatte. Ich trank den Wein aus, unfähig, Anne in die Augen zu blicken, und wünschte, die Countess würde gehen, doch sie plapperte weiter und sagte, dass Lord Stonehouse die Nachricht, dass sein Sohn am Leben sei, feiern wolle, es indes für unangemessen hielt, einen Empfang für einen hohen Befehlshaber der Royalisten zu geben.
Das Feuer war schließlich doch noch angegangen. Die Countess seufzte vor Wohlbehagen und streifte den Pelzumhang von den Schultern. Der Zwilling des Falkenanhängers, den ich zum ersten Mal in ihrer Kutsche gesehen hatte, glitzerte zwischen ihren Brüsten. »Männer«, sagte sie mit einem Kopfschütteln zu Anne, »haben keine Ahnung, wie sich so ein Interessenskonflikt lösen lässt.«
Anne starrte sie stumm an. Ich errötete für sie, sicher, dass sie keine Ahnung hatte, wovon die Countess sprach.
»Alles in Ordnung zwischen Euch beiden?«
Anne saß kerzengerade und schien ihre Finger verknoten zu wollen. Ich wollte sie festhalten, sie vor dieser neugierigen, wissbegierigen Frau beschützen, die einem blutsaugenden Floh glich, der sich von den vertraulichen Geheimnissen aus dem Leben anderer Menschen ernährt.
»Ich verstehe. Es scheint, als sei ich gerade im richtigen Moment gekommen.« Ich beugte mich vor, um ihr zu sagen, dass sie sich nicht einmischen solle, aber sie hob gebieterisch die Hand. »Ich gebe heute Abend eine kleine Gesellschaft für Lord Stonehouse – von außen betrachtet hat es natürlich nichts mit Richard zu tun, aber es wird ihn in die Lage versetzen, nun … diskret zu feiern. Warwick wird dort sein. Bedford. Mr Pym natürlich. Genau die richtigen Personen. Ich möchte, dass du kommst.«
Ich wandte mich ihr zu und starrte sie an. Nach allem, was geschehen war, erwartete sie, dass ich Richards Rückkehr ins Leben feiern würde? Auf der anderen Seite würde Mr Pym dort sein und die großen Earls Bedford und Warwick, die sich seiner bedienten und die Kriegsflotte befehligten.