Ich sprang auf. »Ich gehe nicht in die Schänke!«
»Du hast danach gestunken, als du hereinkamst.«
»Ich wurde in einen Kampf verwickelt.«
»Eine Tavernenschlägerei!«
»Hört auf! Ihr weckt noch das ganze Haus auf!«
Zum ersten Mal galt Mr Blacks Zurechtweisung uns beiden, nicht nur mir. Und zum ersten Mal befragte er mich, ohne automatisch davon auszugehen, dass ich der Schuldige war.
»Bist du in eine Schänke gegangen?«
Ich zögerte. Die Besuche der Schänke hatten einige der schlimmsten Prügelstrafen nach sich gezogen, und sie waren der häufigste Grund, warum Lehrjungen aus den Zünften ausgeschlossen wurden. Aber das lag daran, dass sie tranken, würfelten und herumhurten. Ich hatte nicht einmal etwas getrunken oder auch nur einen Würfel geworfen.
»Nein, Sir«, sagte ich.
»Habt Ihr sein Zögern bemerkt, Herr?«, fragte George.
»Sagst du die Wahrheit?« Die Strenge war wieder in Mr Blacks Tonfall zurückgekehrt und lag im Widerstreit mit seiner Fröhlichkeit.
»Ja, Sir!«
George bewegte leise die Lippen, aber ich hörte sein Gebet. »O Herr, leite ihn, lass ihn seinen Fehler erkennen …«
»Hör auf, George!«
George schwieg abrupt. Sein blasses Gesicht schien sich zu verzerren und zu schrumpfen, seine Lippen bewegten sich noch immer, aber es kam kein Ton heraus. Mr Black drehte sich mit einer heftigen Bewegung um und warf dabei fast den Stuhl um. Schwerfällig ließ er sich am Kopf der Tafel nieder, auf dem mit Leder bezogenen Sessel mit hoher Lehne, den er erst vor Kurzem gekauft hatte, und wirkte wie ein Richter.
George fand seine Stimme wieder. »Fragt ihn, wie er in den Kampf geraten ist.«
»Ich wurde angegriffen. Diebe, die versuchten, die Rede zu stehlen.«
»Warum hast du uns das nicht vorher erzählt?« Georges Stimme war ätzend vor Zweifel.
»Dafür war keine Zeit.«
»Merricks Lehrjungen?«, fragte Mr Black.
»Nein, Sir. Ich habe sie nie zuvor gesehen. Einer hatte ein Schwert.«
Ungläubig schaute George zur Decke, doch Mr Black lehnte sich weit vor.
»Ein Edelmann?«
»Ja. Nein. Ich weiß nicht.«
»War er vielleicht früher einer gewesen?«
»Ja.«
»Beschreibe ihn.«
»Ein mageres Gesicht. Ein Bart wie der König. Er trug einen Biberhut.«
»Wie halb London«, sagte George.
»Und der andere?«
»Ein Handlanger. Schultern wie ein Bulle.«
George lachte. »Das ist ein Märchen aus einem dieser Blätter, die es für einen halben Penny zu kaufen gibt! Er lügt!«
Mr Black sprang auf. Seine gute Laune war ebenso rasch verschwunden, wie sie gekommen war. Er ergriff seinen Stock, den ich in den letzten Monaten immer seltener zu spüren bekommen hatte. »Stimmt das? Oder lügst du?«
»Nein, Sir!«
Ich duckte mich, als ich sah, wie der Stock auf mich zu sauste, hielt die Hände schützend vor den Kopf und zuckte in Erwartung des Schlages zusammen. Der Stock zerbrach, als er ihn auf die Steinfliesen schleuderte. Er machte ein gequältes Gesicht, und ich fürchtete, er sei von jenem seltsamen Leiden befallen, das ihn von Zeit zu Zeit heimsuchte. Dann stand er ganz still, als habe er eine Vision, die andere nicht sehen konnten.
Murmelnd wich George zurück. »Der Junge hat Euch verflucht. Ich habe gesehen, wie er die Lippen bewegt hat.«
Mr Black schüttelte den Kopf, als wollte er die Vision abschütteln, so wie ein Hund sich das Wasser abschüttelt. Er packte mich bei den Schultern und schüttelte mich. »Lügst du?«
»Nein, Sir!« Ich schluchzte, sein seltsam verzerrtes Gesicht jagte mir mehr Angst ein als Stockschläge.
Er schüttelte mich erneut und kam mit dem Gesicht ganz nah an meins. »Es ist für mich ebenso wichtig wie für dich, dass du die Wahrheit sagst! Verstehst du das, du kleiner Narr?«
Ich entzog mich ihm mit einem Anflug von Ärger, der meine Tränen versiegen ließ. Ich hielt mich nicht für einen Narren, und ich war auch nicht mehr klein.
»Es ist wahr! Ich habe gehört, wie die Männer einen anderen Lehrjungen über einen Jungen mit rotem Haar ausgefragt haben, und dann hat sich der Mann umgedreht und mich gesehen, und ich bin fortgelaufen, und dann …«
»Wo war das?«
Die Worte erstarben in meinem Mund. Normalerweise hätte ich gelogen. Ihm erzählt, es sei auf der Straße gewesen, irgendwo, aber sein Gesichtsausdruck war so beunruhigt, so drängend, dass ich mich genötigt sah, die Wahrheit zu sagen.
»Im Pot.«
Ein trauriges Lächeln umspielte Georges Lippen. »Da haben wir es, Sir, da haben wir es.«
Daraufhin erwartete ich eine Tracht Prügel. Ich wünschte, sie hätten es getan. George fand den Gedanken offensichtlich reizvoll. Er nahm seinen alten Winkelhaken aus rostigem Metall zur Hand, von dem ich immer noch eine Narbe an der linken Schläfe hatte. Doch Mr Black wies ihn zurück. Er sah mich an, mit einem Blick von solcher Traurigkeit, der mich stärker traf als jede Peitsche und jeder Stock.
»Ach Tom, ich hatte gerade begonnen, dir zu vertrauen.«
Jetzt konnte ich die Tränen nicht mehr aufhalten, die aus mir hervorbrachen, und mit ihnen ein Sturzbach an Worten. Er musste mehr von seinem Sündenfimmel in mich hineingeprügelt haben, als ich gemerkt hatte, doch es war mir verborgen geblieben, bis ein wenig Freundlichkeit alles ans Licht brachte. Das, und meine Erkenntnis, dass die Worte, welche die Welt verändern würden, durch mein Verlangen nach einem Trunk hätten verloren gehen können.
Ich gestand die Trinkerei. Ich gestand die Würfelspiele. Ich gestand, obwohl ich fürchtete, in Mr Blacks Augen damit die größte Sünde begangen zu haben, zusammen mit Henry, Merricks Lehrjungen, getrunken und Schulden bei ihm gemacht zu haben.
Drohend stand George neben mir und wog den Winkelhaken in der Hand. Ich wollte, dass er mich schlug. Ich brauchte seine Grausamkeit. Doch als ich mich wie ein Opferlamm auf ihn zu bewegte, hielt Mr Black ihn auf. Im Flüsterton schalt er sich selbst, weil er nicht an jemanden geschrieben hatte. Er nahm Feder und Tinte, als wollte er auf der Stelle einen Brief schreiben, dann legte er beides wieder hin und schritt erneut auf und ab.
Auf meine Bestrafung zu warten, machte es zehnmal schlimmer. Ich fühlte mich so sterbenselend, dass ich ihn anflehte, meinen Lehrvertrag aufzuheben und mich nach Hause zu schicken. Ich würde meine Uniform und die Stiefel zurückgeben, mir ein paar alte Sachen von der Lumpenfrau am Tower Hill besorgen und zu meinem Vater zurückkehren.
Wie angewurzelt blieb er stehen und starrte mich an, als hätte ich etwas gesagt, das ihm zunächst einen Schock versetzte und anschließend amüsierte. »Zu deinem Vater? Nein, nein, das geht nicht, das geht gar nicht. Dafür ist es viel zu spät. Und was die Stiefel angeht …« Er schenkte mir eines seiner seltenen freudlosen Lächeln. »Ich bezweifle, dass sie irgendjemand anders passen würden.«
Der Hauch von Ungezwungenheit fiel von ihm ab. »Du wirst dieses Haus nicht eher verlassen, als ich es dir gestatte. Ist das klar?«
Nein. Nichts war klar. Weder das Böse, von dem er sagte, es sei in meiner Seele, noch der geheimnisvolle Edelmann, der plötzlich in mein Leben getreten war und derartige Bestürzung bei ihm ausgelöst hatte. Gleichwohl versprach ich, ihm zu gehorchen.
Er zögerte. »Nein, ich kann dir nicht vertrauen. Ich kann es mir nicht leisten, dir zu vertrauen.« Er wandte sich zu George. »Sperr ihn in den Keller.«
George packte mich am Arm und nickte anerkennend über die Schwere und Gerechtigkeit der Bestrafung. Meine Zunge und die Glieder waren so gelähmt vor Angst, dort in der Nacht eingesperrt zu werden, dass George mich bereits halb bis zur Tür gezerrt hatte, ehe ich den Tisch wie einen Anker umklammerte.
»Nicht in die Dunkelheit, Sir«, flehte ich. »Bitte schließt mich nicht in der Dunkelheit ein!«