Der Dolch fühlte sich ganz anders an als mein Lehrlingsmesser, das im Vergleich dazu nichts als ein Spielzeug war. Der Dolch war schwerer und besser ausbalanciert. Ich löste ihn von meinem Gürtel und blieb stehen, wenige Zoll von ihren Rücken entfernt. Sie hatten die Aufmerksamkeit des Wirts gewonnen.
»… rotes Haar. Tom Neave«, sagte der Mann mit dem Biberhut gerade. Er zog ein zerknittertes Blatt Papier aus der Tasche. Als er es auseinanderfaltete, erhaschte ich den Blick auf eine der Skizzen, die der Maler in jenem Sommer von mir angefertigt hatte. Mit wenigen Strichen hatte er mein Grinsen eingefangen, ebenso wie meine spitze Nase zwischen den dunkel glänzenden Augen.
Ich schob mich näher heran. Ich versuchte zu schlucken, aber mein Mund war wie ausgedörrt. Crows derber Lederwams hatte einen Riss am Rücken, der wie ein offener Mund aussah und größer wurde, sobald er sich bewegte. Ich fühlte mich davon angezogen und betrachtete ihn fasziniert.
Der Wirt sagte: »Hab ihn seit einer Woche nicht mehr gesehen.«
»Wir arbeiten für die Verlegerzunft und für Mr Black«, sagte der Mann. Seine Stimme klang ernst und besorgt. »Er wird gesucht, weil er seinen Vertrag gebrochen hat, gestohlen hat … Ihr könnt mich im The Cock and the Hen in Holborn erreichen … Es ist eine Belohnung von fünf Kronen auf ihn ausgesetzt.«
Der Wirt hob die Augenbrauen. In seinem Gesicht stand geschrieben, dass ihm das einen beträchtlich größeren Gewinn bescheren würde, als es durch den Verkauf von Bier jemals möglich war. Aber das war es nicht, was mich die Beherrschung verlieren ließ. Dazu kam es erst, als ich hörte, dass Mr Black, den ich für einen gottesfürchtigen Mann gehalten hatte und der heuchlerisch so getan hatte, als wollte er mich vor der Gefahr warnen, zu den Verschwörern gehörte, die beabsichtigten, mich zu töten.
Der Dolch schien ein Eigenleben zu entwickeln, als ich ihn aus der Scheide zog. Ich sah nichts als den Riss in Crows Wams, der sich öffnete und schloss und ein perfektes Ziel abgab.
»Tom!«
Gott sei mein Zeuge, aber ich glaubte, es sei die Stimme des Herrn, die mich innehalten ließ. Crow und der Mann mit dem Biberhut wirbelten herum, stießen gegen einen Mann, der versuchte, zur Bar zu gelangen, der wiederum gegen mich stolperte. Mein Dolch fiel zu Boden.
»Tom!«
Will winkte neben einer der Türen. Der Mann mit dem Biberhut schob sich durch eine Gruppe Zecher auf ihn zu. Crow machte sich auf der Stelle daran, die andere Tür zu sichern. Ich sah, wie sein Blick peinlich genau von Kopf zu Kopf wanderte. Trotz des Dämmerlichts und obwohl ich spürte, dass mein Hut fest auf dem Schädel saß, hatte ich das Gefühl, meine roten Haare kröchen über meinen Hals, als würden sie gleich einem Signalfeuer brennen.
Will sah mich an. Ich schaffte es gerade noch, stumm den Kopf zu schütteln. Als der Mann mit dem Biberhut ihn ansprach, schüttelte Will ebenfalls den Kopf und deutete auf die Tür, an der Crow stand.
»Er ist abgehauen«, rief der Mann mit dem Biberhut Crow zu, der hinaus auf die Straße stürmte, den anderen dicht auf den Fersen.
Ich hob den Dolch auf und starrte seine Klinge an, während Will sich einen Weg durchs Gedränge bahnte, zusammen mit einem älteren Mann in einer Uniformjacke im holländischen Stil mit ordentlichem Leinenkragen.
»Ich wollte ihn umbringen«, sagte ich törichterweise.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Du standst falsch«, sagte er in gebildeter Sprechweise. »Du hättest ihn lediglich verwundet. Er hätte sich umgedreht und dich getötet.« Er zog seinen Finger über die Kehle.
Will unterbrach ihn barsch, als er sah, dass der Wirt etwas zur Schankmagd sagte. »Bring ihn hier raus, Luke!«
Er packte mich an einem Ellenbogen und der Mann namens Luke am anderen, und gemeinsam hetzten sie mit mir hinaus in die Nacht.
8. Kapitel
In jener Nacht schlief ich, zusammengerollt in meinem Josephmantel, auf Ballen besten Virginia-Tabaks im Speicher von Wills Vater. Seitdem verbinde ich den Rauch von Virginia-Tabak, der kräuselnd aus einer Tonpfeife emporsteigt, mit dem Geruch der Rebellion. Er stieg aus den Pfeifen von Will und Luke auf, als sie mich am nächsten Morgen weckten. Sie brachten mich ins Kontor, wo ich einen dritten Mann kennenlernte, Ben. Es folgte eine genaue Inventur, jedoch nicht der Waren, sondern meiner selbst – eine Vernehmung.
Alle drei waren Mitglieder der Allerheiligen Bürgergarde. Will und Ben waren typische Vertreter vieler Teilzeit-Soldaten der Stadt: durchschnittliche Männer, die gegen die reichsten Kaufleute der Stadt kämpften, welche in der Regel den König unterstützten. Wie viele Tabakhändler bemühte sich Wills Vater darum, das Monopol der sagenhaft reichen Gewürzhändler zu brechen. Benyon, sein Gegner bei den Wahlen zur Ratsversammlung im nächsten Monat, war einer von ihnen.
Ben war Apotheker. Von einem anderen Monopol, den Ärzten, daran gehindert, in der Stadt zu arbeiten, praktizierte er in Spitalfields außerhalb der Stadtmauern und verteilte Heilkräuter an die Londoner Armen. Ben war still und zurückhaltend wie seine graue Jacke und Hose, doch in seinem Schweigen lag eine Starrköpfigkeit, die Weigerung, alles als gegeben hinzunehmen, die mir gefiel.
Luke dagegen war ganz anders. Er schien nur ein Ziel gehabt zu haben, als er sich der Bürgergarde anschloss: zu kämpfen. Er kam gerade vom Fechttraining und lehnte sein Schwert gegen einen klapprigen Tisch im Kontor. Er war Lehrzögling eines Rechtsanwalts in Gray’s Inn und der zweite Sohn eines Adligen, und so sah er auch aus. Das ausgesprochen weiche Leder seiner Stulpenstiefel verspottete meine Schuhe »wie sie bei Hofe getragen wurden«. Ich versteckte sie unter dem Tisch, und meine Wangen brannten vor Verlegenheit, doch die Schäbigkeit meiner Kniehosen konnte ich nicht verbergen, ebenso wenig den üblen Geruch und die Flecken auf meinem Josephmantel, bei dem er die Nase rümpfte. Zweifelnd musterte er mich, als sei ich eine dieser Kuriositäten, die vom fahrenden Volk ausgestellt wurden.
»Du bist auf der Flucht«, sagte er gedehnt.
»Ja«, erwiderte ich herausfordernd. »Werdet Ihr mich nach Newgate bringen?«
»Bridewell«, korrigierte er, »für unbedeutende Missetäter wie dich. Es sei denn, du hättest tatsächlich jemanden getötet.«
Vielsagend blickte er auf den Dolch an meinem Gürtel. Ich sprang auf und warf beinahe den Tisch um. Eine Woche auf der Flucht hatte mich bereits verändert, und ich hatte mir angewöhnt, zuerst zu handeln. Noch einen Moment länger, und ich wäre zur Tür raus gewesen, bereit, Luke von seinem Stuhl zu stoßen, falls er mich aufhalten wollte.
»Was ist passiert, Tom?«
Ben sprach mit leiser Stimme, und seine Besorgnis wirkte beruhigend auf mich. Ich schämte mich meiner heftigen und unangemessenen Reaktion und ließ mich auf meinen Schemel zurückfallen. Ich erzählte ihnen alles, von dem Moment an, als Mr Black mich aus Poplar geholt hatte, bis zum Anschlag auf mein Leben und die Abrechnungen und Notizen über mich, die ich in Mr Blacks Kontor entdeckt hatte.
Als ich fertig war, herrschte Stille, bis auf das Glockengeläut der Schuten auf dem Fluss. Will paffte an einer Pfeife mit dem bestem Virginia seines Vaters, der sich von einer »fauligen, stinkenden Neuheit«, wie König James ihn verspottet hatte, zu einem Heilmittel gegen alle möglichen Leiden verwandelt hatte, von Koliken bis Blasensteinen.
»Ist das eine Geschichte aus deinen Flugschriften?«, fragte Luke skeptisch.
»Es ist die Wahrheit!« Ich schlug mit der Faust auf den Tisch, doch dann ertönte zu den Schiffsglocken der viel tiefere Klang einer Kirchenglocke.
»St. Mary-le-bow«, sagte Will. »Das bedeutet …«
Der Ende seines Satzes wurde von dem gewaltigen Getöse der Glocken verschluckt, das sich von Osten her über die ganze Stadt ausbreitete. Gleich einem Feuer, das von Dach zu Dach sprang, schwoll der Lärm an, das kehlige Wummern von St. Katherine’s beim Tower, das Hallen von St. Dunstan-in-the-East, welches die Glockenspiele von St. Lawrence Jewry und St. Giles Cripplegate, St. Paul’s, St. Martin’s, St. Dunstan-in-the-West und St. Clement Danes zum Leben erweckte, bis der ganze Speicher einem riesigen Kessel aus Tönen glich.