»Als ich dieses Buch im Kontor deines Vaters fand, mit den Aufzeichnungen über das Geld, das er für mich ausgegeben hat, und das Porträt, da sagtest du, ›Ich weiß es‹. Was hast du damit gemeint?«
»Ich habe das Buch zuvor schon einmal gesehen.«
Sie schwieg einen Moment und blickte zur Gruppe um ihre Mutter. Es war ein ungewöhnlich milder Wintertag, die Sonne brach stärker durch die Wolken. George war immer noch richtig in Fahrt, Mrs Benyon zeigte Mrs Black die vergoldete Verkleidung und die dicke Lederpolsterung ihrer Kutsche, während der Kutscher sich eine Pfeife anzündete und das Gesicht in die Sonne hielt.
Es sei an jenem Herbsttag gewesen, erzählte sie mir, als wir als Kinder zusammen gespielt hatten und der Mann mit der Narbe gekommen war. Wir wurden hereingerufen. Während ich davonlief, nahm ihr Vater sie mit ins Kontor, wo er zusammen mit dem Mann die Rechnungsbücher durchging. Nie zuvor habe sie ihren Vater so streng und zugleich so eingeschüchtert erlebt.
»Eingeschüchtert? Mr Black?«, sagte ich.
»Genau wie ich.« Sie zitterte bei der Erinnerung an den Edelmann, der auf den Tisch geschlagen und geschrieen hatte: »Das genügt nicht, Black, das reicht nicht! Behaltet den Jungen scharf im Auge!«
Der Mann hatte sich zu ihr heruntergebeugt, so dass die Narbe beinahe ihr Gesicht berührt hatte und sie den Wein in seinem Atem riechen konnte. »Du weißt doch, was Tom Neave ist, oder? Ein Pestkind!«
Erst jetzt ließ Anne die Kräuter fallen, die sie gesammelt hatte, und stellte fest, dass ihre Hände von den Nesseln rote Flecken bekommen hatten.
»Was hat er damit gemeint?«
Ungestüm kratzte sie sich die Hände. »Ich weiß es nicht! Wirklich nicht!« Sie blickte erneut zu ihrer Mutter. »Sie befahlen mir, nicht in deine Nähe zu kommen. Sie glaubten, du seist schlecht.«
»Das war George!«, sagte ich verächtlich. »Er ist ein Lügner und Heuchler.«
»Das ist er nicht«, widersprach sie energisch. »Er hält das Geschäft am Laufen. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn täten. Er arbeitet viel für Mr Benyon.«
»Für Benyon?« Ich traute meinen Ohren kaum. »Er ist ein Royalist! Weiß dein Vater das?«
»George zeigt ihm, was er druckt.«
»Bist du sicher?«
»Er hat ihm die Korrekturabzüge gegeben, aber ich kann sie nicht lesen. George weiß, dass jemand meinen Vater dafür bezahlt hat, dich aufzunehmen. Er sagt, er habe ihn gewarnt, dass du böse bist und dass seine Krankheit Gottes Strafe ist.«
»Was für ein Unsinn!«
»Er hat Vater erzählt, dass ich dich aus dem Keller gelassen habe. Ich dachte, Vater würde wahnsinnig! Dass er nicht sprechen kann, macht es nur noch schlimmer. Er schreibt … versucht zu schreiben.«
Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und stolperte blind umher. Blut lief über ihre Handrücken, wo sie sich die Haut aufgekratzt hatte.
»Anne, wo steckst du?«, rief Mrs Black.
»Ich komme!«, erwiderte sie. »Mich hat etwas in die Hand gestochen. Ich hole nur etwas Ampfer.«
Sie riss ein paar Ampferblätter aus. Ich ergriff ihre Hand.
»Anne – als er sagte, ich sei ein Pestkind, hast du da gedacht, ich würde schwarze Beulen bekommen?«
Überraschend begann sie zu lachen. »Ja. Ich habe jeden Tag danach gesucht.«
»Hast du welche gefunden?«
»Nein.«
»Glaubst du, ich sei böse?«
»Der Teufel ist schlau«, sagte sie mit eindringlicher Direktheit.
»Das sagt George.«
»Er sagt, dass niemand weiß, wer du wirklich bist. Woher du kommst.«
Das war wahr. Für mich deutete mittlerweile alles darauf hin, dass ich nicht Matthews und Susannahs Kind war. Matthew war nicht wegen des gestohlenen Anhängers nach Poplar geflohen, sondern meinetwegen. Ein Pestkind. Was meinte der Mann damit? Soweit ich wusste, war ich nie an der Pest erkrankt. Ein kalter Schauder ergriff mich. Es gab ein Gesetz, dass mit dem Tode durch Erhängen bestraft würde, wer »mit einer sündhaften oder bösen Seele sprach, ihr zu essen gab, sie bewirtete oder beschäftigte«. Das, so glaubte die Kirche, sei die größte Sünde gegen Gott – Maleficium, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen.
»Anne, du darfst nicht glauben, dass ich eine böse Seele bin!«
Ich musste so verzweifelt ausgesehen haben, so jammervoll, dass sie lachte und mich umarmte. »Nein, Tom, nicht wenn ich mit dir zusammen bin. Nicht, wenn du mich auf diese Weise anschaust.«
Kurz entschlossen küsste sie mich. Nie zuvor hatte ich sie schöner gesehen, obwohl ihr Gesicht gerötet war und ihre Haube schief saß, so dass ihr widerspenstige Strähnen blonden Haares in die Augen wehten.
Der Peitschenknall des Kutschers ließ sie zusammenzucken, als hätte sie die Knute gespürt. »Doch wenn ich meinen Vater so liegen sehe … Du sagst, wenn ich dir sage, dass ich dich nicht liebe, würdest du gehen.«
»Aber du tust es.«
»Ich darf dich nicht lieben.« Jetzt weinte sie, und Tränen verzerrten ihre Worte. »Ich habe meinem Vater versprochen … ich habe bei der Bibel geschworen, dass ich dich nie wiedersehen werde. Und hier stehe ich jetzt, Gott verzeihe mir. Versprich mir bei der Bibel deiner Mutter, dass du mich nie wieder aufsuchen wirst, Tom!«
Ihre Augen waren blind vor Tränen, ihre Stimme klang so verzweifelt, und ich liebte sie so sehr, dass ich in diesem Moment alles für sie getan hätte. Die Worte waren über meine Lippen, ehe ich sie zurückhalten konnte. »Ich verspreche es.«
11. Kapitel
Dieser Dezember, dieses Weihnachtsfest, war eine einzige Leere für mich. Ich kümmerte mich um nichts: Leben, Politik, Worte … alles hatte den Geschmack von trockenem Brot. Ich trat der Allerheiligen Bürgergarde bei und ging mit Will, Luke und Ben nach Moorfields, für etwas, das ich für sinnloses Exerzieren hielt. Doch ich brauchte etwas Sinnloses. »Spieß nach rechts … Hand … Zum Angriff!« Oder, mit einer Muskete: »Kugel einlegen und stopfen … Putzstock ziehen!«
Der Spießmeister, Big Jed, war Kohlenträger, ein riesiger Kerl, dessen freundliches Auftreten seine Worte Lügen strafte. Seine Stimmung passte zu meiner. Er war ein Veteran der Londoner Aufstände und erklärte, die Dienstvorschrift zum Gebrauch des Spießes sei von hohen Herren geschrieben worden, die Gefallen an hübschen Bildern fanden. Mit zwei kurzen Sätzen, bei denen es uns eiskalt über den Rücken lief, verscheuchte er das Lächeln von unseren Lippen und verdarb uns die Lust am Possenreißen. »Das ist ein Spieß«, sagte er. »Damit bringt man Menschen um.«
Ich dachte, meine Liebe zu Anne würde schließlich vergehen. Ich betete dafür, dass das endlich geschehen möge, doch sie schien nur noch stärker zu werden. Die Abende waren am schlimmsten, wenn ich die Milane über Smithfield kreisen sah und mich danach sehnte, durch Cloth Fair zu streifen, nur um einen Blick auf sie zu werfen.
Kurz vor Weihnachten wurden die Wahlen für die Ratsversammlung der City of London abgehalten. Die Anhänger des Königs verloren ihre Mehrheit, Georges Freund Benyon musste seinen Sitz an Wills Vater, John Ormonde, abgeben, doch selbst das trug wenig dazu bei, mich aufzumuntern.
Das Geld für meine Unterkunft bei den Ormondes verdiente ich als Bote für Mr Pym. Die Aufstände wurden heftiger, und zum ersten Mal wurden Lehrjungen Roundheads genannt, Rundköpfe, wegen ihrer kurz geschorenen Haare. Im Gegenzug verhöhnten sie die Royalisten als »Caballeros«, nach den bei Protestanten verhassten spanischen Truppen. Die Londoner machten daraus rasch das Wort »Cavalier«. Indem ich mich in die Politik stürzte, versuchte ich Anne zu vergessen. Ich half, Demonstrationen zu organisieren, um den Einzug der Bischöfe ins House of Lords zu verhindern, um die Mehrheit des Königs aufzubrechen, welche die reformerische Gesetzgebung des House of Commons behindert hatte. Jetzt erkannten die Lords die Gesetze an, sagte ein vergnügter Mr Ink, und das in einem beispiellosen, höchst unparlamentarischen Tempo!