Ich tastete nach dem Türriegel, als sie sah, dass zwischen zwei Karren eine Lücke entstand. Sie riss einen Stock mit silbernem Knauf hoch, hämmerte damit gegen die Trennwand und rief: »Fahr über die Piazza, Alfred!«
Als die Pferde scharf nach rechts ausscherten, schwang die Tür auf, und ich wurde hinausgeschleudert, bis ich halb aus der Kutsche hing. Verzweifelt klammerte ich mich an die Tür, das Kopfsteinpflaster unter mir verschwamm zusehends, ehe die Pferde mit einem scharfen Ruck nach rechts auf die Piazza bogen und ich wieder ins Innere der Kutsche geworfen wurde. Benommen vom Duft der Countess und dem Schlag auf meinen Kopf, gelang es mir gleichwohl, die Tür wieder zu schließen und mich zurück in den Sitz fallen zu lassen. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, ob der Kutscher durchkam, dass sie entweder gar nicht bemerkt hatte, wie ich beinahe aus der Kutsche gefallen war, oder sich nicht darum scherte. Doch als wir über die Piazza rasch vorankamen, spürte ich ihren Blick auf mir.
»Du hast rotes Haar.«
Überzeugt, dass sie in mir den Burschen wiedererkannte, der am Fenstersturz gehangen und auf ihre Brüste gestarrt hatte, spürte ich, wie mir das Blut in den Kopf schoss, in meinen Wangen brannte und mein verfluchtes Haar prickeln ließ.
»Schwarz … schwarz, Ma’am«, stammelte ich.
»Widersprich mir nicht«, sagte sie scharf. »An den Wurzeln ist es rot. Du hast es gefärbt. Extrem schlecht. Warum?«
»Das ist jetzt Mode, Ma’am«, sagte ich versuchsweise, während die Kutsche die St. Martin’s Lane herunterraste. Fußgänger retteten sich mit einem Hechtsprung hinter die Pfosten, die den schmalen Gehsteig säumten.
»Mode? Unsinn. Sieh mich an!«
Eine neue Note hatte sich in ihren scharfen Befehl geschlichen, ein Hauch von Neugier, vielleicht sogar Interesse. Widerwillig wandte ich den Kopf um. Ich hatte keine Ahnung, was sie sagen wollte, denn ich war von dem, was ich sah, so vom Donner gerührt, dass ich mich spontan zu ihr vorbeugte. Die Bewegung brachte sie zum Schweigen. Zuletzt hatte ich es am Hafen von Poplar gesehen, glänzend im abendlichen Feuerschein, als mein Vater mir mein Schicksal vorausgesagt hatte. In der holpernden Kutsche war ihr Umhang aufgegangen und gab den Blick auf den Anhänger zwischen ihren Brüsten frei. Im Dunkeln der Kutsche schien etwas von dem Glanz dieses Feuers von den Juwelen abzustrahlen, aus denen die Augen des Vogels gebildet waren und mich anstarrten, während er eine Perle zwischen den Krallen festhielt.
Ich konnte mich nicht beherrschen und teilte ihren Umhang, um die Juwelen besser sehen zu können. Mit der flachen Hand gab sie mir eine Ohrfeige, die es in sich hatte.
Ich fiel zurück ins Polster, ganz benommen von dem Schlag. Obwohl ich ihn nur kurz aus der Nähe gesehen hatte, hatte ich erkannt, dass es ganz und gar nicht derselbe Anhänger war, obwohl er dem, den ich kannte, stark ähnelte. Der Vogel in dem Anhänger meines Vaters war ein Falke gewesen, mit Rubinen als Augen. Dieser Vogel war eine Elster, und die Augen bestanden aus Diamanten.
»Verzeiht«, murmelte ich, »Ma’am. Ich … ich vergaß mich. Mein Vater …«
Ich kauerte mich in die Ecke. Mir war schlecht, weil ich ihn beinahe verraten hätte, und von der schwankenden Kutsche, die sich gerade an Charing Cross vorbeikämpfte.
»Du hast den Anhänger angeschaut. Es gibt nur noch einen anderen wie ihn. Hast du ihn gesehen?«
»Nein. Nie.«
»Du bist sein Junge, stimmt’s?« Sie beugte sich näher zu mir, ihre Augen blitzten neugierig auf, wie bei der Elster auf ihrem Anhänger.
Ich starrte zu ihr empor. Plötzlich hatte ich mich verwandelt, von einer geringen Person, von nicht mehr als einem Paar Beine, das Nachrichten überbrachte, zu einem echten Menschen. Sein Junge? Wusste sie, wer mein Vater war? Wenn ich älter und weiser gewesen wäre, hätte ich vielleicht vorgegeben, Bescheid zu wissen, in der Hoffnung, ihr Auskünfte zu entlocken. Doch ich war ein ungehobelter Bursche, unbeherrscht und unbedacht, und reagierte mit einer Wildheit, die sie zurückschrecken ließ.
»Wessen Junge? Sagt es mir!«
»Wessen? Warum … Mr Pyms natürlich!« Sie lächelte, aber erst nachdem ich sie dabei ertappt hatte, wie ihre Zähne sich verärgert in die vollen Lippen drückten. In ihrem Blick lag etwas, das ich nicht erwartet hatte, bei ihr zu sehen: Furcht. Es war nicht die nackte Angst, die Matthew gezeigt hatte, als er mir den näheren Zusammenhang dieses Anhängers erklärte, sondern eher eine vorsichtige, zivilisierte Version von Angst, die mich gleichwohl ermutigte.
»Ihr meint nicht Mr Pyms Junge. Was wolltet Ihr damit sagen?«
»Werd nicht unverschämt!«
Sie hob den Stock mit dem silbernen Knauf auf. Ob sie mich geschlagen oder mich aus der Kutsche geworfen hätte, Brief hin oder her, fand ich nicht heraus, denn vor Whitehall trat ein Wachmann in Livree auf die Straße, den Spieß erhoben, und grölte dem Kutscher zu, anzuhalten. Alfred riss die Zügel zurück. Durch die Palasttore erspähte ich eine große Gruppe Bewaffneter. Manche von ihnen waren höfisch gekleidet, mit hellen, geschlitzten Leibröcken und breitrandigen Federhüten, andere trugen die schlichten holländischen Wämser, wie bei Söldnern üblich. Alle hatten Schwerter dabei, manche gar Pistolen. Ehe ich mehr erkennen konnte, hämmerte die Countess gegen die Trennwand.
»Fahr! Fahr weiter!«
Die Kutsche machte einen Satz nach vorn, der Wachmann sprang mit einem wütenden Aufschrei zur Seite. »Stopp! Im Namens des Königs!«
»Fahr! Fahr!«, schrie die Countess und hämmerte auf das Holz ein. »Fahr schon, du Narr!«
Die verwirrten und erschreckten Pferde bäumten sich auf und preschten vorwärts. Flüchtig sah ich, wie die Wache hinter uns mit mehr Erfolg eine andere Kutsche requirierte. Alfred klammerte sich eher an die Zügel als mit ihnen zu lenken. Ich glaubte, dass er jeden Moment von seinem Sitz fallen müsste. Es war unmöglich, sich im Inneren der Kutsche irgendwo festzuhalten. Mein Halteriemen riss. Die Countess und ich krachten aufeinander und wurden im nächsten Moment auf die andere Seite der Kutsche geworfen. Schreie von Fußgängern und einem Karrenlenker, die gerade noch ausweichen konnten, gingen im Dröhnen der Räder unter, in dem Knirschen und Stöhnen der Kutsche, die kurz davor schien, sich vom Pferdgespann zu lösen.
Eine andere Kutsche kam uns entgegen und machte keine Anstalten, auszuweichen. Alfred riss an den Zügeln. Verlor sie beinahe. Es sah aus, als müssten wir zusammenstoßen. Alfred ließ die Peitsche über die entgegenkommenden Pferde knallen. Als sie stiegen, riss er seine Pferde zur Seite. Die Countess schloss die Augen. Bei der Kollision warf sie sich gegen mich. Sie umklammerte meinen Arm. Ein entsetzliches Knirschen ertönte, das gar kein Ende zu nehmen schien. Ich zuckte zusammen und schloss ebenfalls die Augen. Die Kutscher brüllten sich an, aber unsere Kutsche war immer noch in Bewegung. Alfred hatte sie durch die schmale Lücke zwischen der anderen Kutsche und den Pfosten gelenkt, die den Gehsteig begrenzten. Die Pfosten rissen die Seite unseres Wagens auf, aber verlangsamten die Fahrt auch hinreichend, damit Alfred die Pferde wieder unter Kontrolle bekam.
Die Countess öffnete die Augen. Ihr Blick verriet keine Furcht oder auch nur Ärger über die beschädigte Kutsche, sondern Hochgefühl. Wir sanken in unsere Polster zurück und sagten nichts, während die Kutsche mit einem gebrochenen Rad, das in Abständen klapperte, gleichsam nach Westminster humpelte. Ich hatte bereits den Brief vom Boden aufgehoben und mühte mich mit der Tür ab, als sie impulsiv meine Hand drückte. »Lauf, Tom! Bring ihm diesen Brief, ehe diese Männer ihn erreichen!«
Tom! Sie kannte meinen Namen! Dieser Gedanke dröhnte in meinem Kopf, als Alfred die Tür aufriss. Sie hatte mich Tom genannt! Vielleicht wusste sie tatsächlich, wer ich war! Diese Vorstellung durchdrang mich, als ich herausstürzte und in der Lobby in Mr Ink hineinrannte. Ich redete auf ihn ein, dass ich diesen Brief zu Mr Pym bringen müsse, und ohne ein Wort trieb er mich voran zum Sitzungssaal. Im schattigen Zugang standen zwei Wachen, und hinter ihnen der Serjeant-at-Arms in Kniehose und voller zeremonieller Uniform. Mr Inks Augen leuchteten vor Aufregung. Es war, als habe er sein ganzes Leben lang auf diesen Augenblick gewartet.