»Du wirst Anne nicht heiraten?«
»Nein. Das ist vorbei.«
Lauernd sah er mich an. »Gibst du der Countess den Vorzug?«
»Und ihrer Kutsche«, brachte ich hervor, doch der Scherz war nicht aufrichtig. Manchmal gelang es mir, mehrere Stunden am Stück nicht an Anne zu denken, aber dann sah ich eine Frau auf der Straße, die ich für sie hielt, oder roch die Damaszenerrose, die sie in ihrer Pomade benutzte. In solchen Momenten stürzte ich mich in Aktivität, wie jetzt auch, und bemühte mich, sie zu vergessen. Wir hoben eine weitere Bank hoch und manövrierten sie durch die Kirchentür.
»Ich hörte, dass Anne jemand anderem versprochen sei.«
Ich ließ mein Ende der Bank so plötzlich fallen, dass Luke auch das andere Bankende aus der Hand rutschte und er vor Schmerz aufheulte, als es ihm auf den Zeh fiel.
»Wem?«
»Ich weiß es nicht! Es war nur ein Gerücht in der Schänke!«
In der Barrikade klaffte noch immer eine Lücke, und ich schlängelte mich hindurch. Ich vergaß meinen Schwur, sie nicht aufzusuchen. Stoßend und rempelnd bahnte ich mir meinen Weg, doch vor dem Rathaus blieb ich in der dichten Menschenmenge stecken. Als die Tore geöffnet wurden, erhob sich ein lautes Gebrüll. Hell aufflammende Fackeln beleuchteten den gold und rot glänzenden Anstrich, als die königliche Kutsche herausrollte. Als der König das Rathaus verließ, verstummte die Menge. Er wischte sich etwas von seinem Umhang, ehe er ruhig in die Kutsche stieg. Das Gemurre begann, als eine Gruppe königlicher Dragoner begann, langsam den Weg durch die Menge frei zu machen, die vor ihren Schwertern zurückwich. Schließlich fand die Menge ihre Stimme wieder und brüllte »Privileg! Privileg!«. Flugblätter wurden auf die Kutsche geschleudert, und ich erhaschte einen Blick auf das bleiche, ängstliche Gesicht des Königs. Ich konnte es kaum glauben, dass dieselbe Menge ihm kaum zwei Monate zuvor solch einen begeisterten Empfang bereitet hatte und ich selbst ihn für göttlich gehalten hatte.
Ich warf mich in den Korridor, den die Dragoner geschlagen hatten, ehe er sich erneut schloss. Ich begann zu rennen, doch jetzt war ich bestens zu sehen. Fast direkt neben meinem Ohr bellte eine Stimme.
»Da ist er!«
Sie stach aus der Masse hervor, diese Narbe, wie ein lebendiges Wesen. Die kalten metallischen Augen hypnotisierten mich. Ich mochte vielleicht nicht Matthews Sohn sein, trotzdem hatte ich von ihm die Angst vor der Narbe geerbt. Der Mann bahnte sich seinen Weg zu mir. Vor ihm war ein Bursche, den ich nie zuvor gesehen hatte. Mager und drahtig wie ein Windhund, war er gut einen Fuß größer als der Rest der Menge und glitt durch sie hindurch, als habe er Öl auf der Haut. Er war kurz davor, mich zu packen, als ein Knüppel, der irgendwo aus der Menge geworfen wurde, das Pferd eines Dragoners steigen ließ. Ein anderer Dragoner hieb auf den Aufrührer ein. Der Mann mit der Narbe rief mir etwas zu, aber ich erzwang meinen Weg durch die Menge, bis ich zu einer Gasse gelangte. Blindlings rannte ich drauflos. Dieser Teil der Stadt war mir unbekannt. Ich flitzte durch eine Gasse nach der anderen, bis die Schreie des Aufruhrs schwächer wurden und ich nur noch meine hastenden Füße und meinen keuchenden Atem hörte.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Der Mond war nur ein schmaler Streifen, doch das Eis warf sein Abbild in einem unheimlichen Schimmer zurück. Ich lehnte mich gegen eine schmierige Wand und kam langsam wieder zu Atem. Ich konnte sie nicht einmal hören, so vorsichtig mussten sie sich mir genähert haben. Als ich aufblickte, sah ich am einen Ende der Straße Crows kräftige Silhouette. Am anderen stand der Mann mit dem Biberhut, die Hand am Schwert. Sie waren sich meiner so sicher, dass sie sich nicht einmal rührten. Ich bewegte mich ebenso wenig. Es schien sonderbar, doch einen Moment lang waren sie mir fast willkommen. Es lag nicht daran, dass ich es müde war, davonzulaufen; es war das, was Luke gesagt hatte.
»Ich hörte, dass Anne jemand anderem versprochen sei.«
Selbst wenn es nur ein Wirtshausgerücht war, welche Hoffnung gab es noch für mich? Schließlich hatte ich bei der Bibel geschworen, sie nie wieder aufzusuchen. In diesem Augenblick, als wir drei dort standen wie zu Eis erstarrt, fand ich einen Moment lang, dass es besser sei zu sterben, als sie nie wieder zu sehen. Doch meine Instinkte und meine Beine trieben mich in eine enge Straße. Crow und Gardiner hatten es nicht eilig, mir zu folgen, und schon bald fand ich heraus, warum. Die Straße führte zu einer Kirche, die zwischen zwei engen Gassen eingezwängt war. Das Tor zum anderen Gang war versperrt.
»Wie bequem«, sagte Gardiner zu Crow, zog sein Schwert und schwang es in Richtung des Friedhofs, der über eine schmale Treppenflucht zu erreichen war. Viele Kirchen waren mitten in die Stadt hineingezwängt worden, wo die Menschen im Leben wie im Tod um ein wenig Raum kämpften. Sie alle wollten auf ihrem eigenen Stück geweihten Bodens begraben werden, und so war dieser Friedhof, wie viele andere auch, überfüllt. Auf einer Seite der Treppe stand ein Haufen Särge, die noch nicht begraben waren. Crow deutete mit einem Grinsen darauf.
»Vielleicht können wir uns einen von denen da ausleihen.«
Ich rannte die Treppe hoch, umklammerte mein Messer und duckte mich hinter die unebenen, wackeligen Särge. Oben auf lag eine Leiche in einem Leichentuch.
»Willst du uns die Arbeit erleichtern, Tom?«, spottete Gardiner. Er hob sein Schwert.
Totengräber wurden, genau wie die Straßenkehrer, in der Krise nicht entlohnt, oder sie beteiligten sich an den Aufständen oder hatten sich den Bürgergarden angeschlossen. Der Abfall sammelte sich, Leichen wurden nicht beerdigt. Beim Gestank des verrottenden Fleisches stieg mir die Galle in den Mund. Als Gardiner begann die Stufen zu erklimmen, riss ich das Leichentuch von dem toten Körper. »Dieser hier ist an der Pest gestorben.«
Gardiner lachte und holte mit dem Schwert aus, bereit, voranzustürmen. »Du lügst! Du würdest dich niemals in seine Nähe wagen.«
»Ich bin ein Pestkind!«, schrie ich und stieß den Leichnam auf die oberste Stufe. Langsam wich Gardiner zurück und steckte sein Schwert in die Scheide. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Erschieß ihn«, sagte er sachlich.
Jetzt sah ich, dass Crow eine Pistole hatte. Ich starrte hinunter auf den langen Lauf, erkannte jede gezogene Rille, sah Crows Auge hinter der Kimme und betete für mein Leben. Ich bat Gott um Vergebung, dass ich mir je den Tod gewünscht hatte, doch dann sah ich einen blendend hellen Blitz und empfand einen reißenden Schmerz, ehe alles von mir abglitt, als fiele ich in eine dunkle, bodenlose Grube.
13. Kapitel
Die Hölle ist es, nichts zu wissen. Nicht zu wissen, woher die Stimmen kommen oder was sie sagen. Die Hölle besteht aus sengendem Feuer und tropfendem Schweiß, aus Schmerz, von dem man nicht will, dass er wirklich aufhört, denn wenn er es täte, dann würde alles nur von Neuem beginnen, und Warten war das Schlimmste. Nein, das ist nicht wahr. Die Narbe war das Schlimmste, genau, wie Matthew es mir gesagt hatte. Darum schloss ich die Augen, tat, als würde ich schlafen, sobald jemand den Raum betrat.
Da war der Mann mit der Narbe, und ein weiterer Mann. Da war ein Arzt, der meinen Arm schiente und verband. Er hätte mich zur Ader gelassen, aber die Narbe sagte, ich hätte um Himmels willen schon genug Blut verloren. Da war ein Mädchen in Schwarz, das sie Jane nannten. Sie hatte ruhige Hände, zog die Vorhänge zurück, entzündete das Feuer und ließ mir etwas zu essen da. Als das Fieber ein wenig nachließ, begann ich davon zu kosten, aber nur, wenn ich allein war.
Eines Tages schlürfte ich gerade meine Suppe, als ein kleiner, fetter Mann die Kammer betrat, oder besser gesagt, hereinrollte. Von den wohlgenährten Waden bis zu den dicklichen Wangen war alles an ihm warm und leutselig, bis auf seine Augen, von denen ein gerissener, wachsamer Blick ausging.