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Ich schlich den nächsten Absatz hinunter. Aus dem Stockwerk unter mir hörte ich Stimmengemurmel, das aus dem Raum kommen musste, der Turville als Studierzimmer diente. Ein starker Moschusgeruch führte mich zu Turvilles Schlafkammer. Die Tür stand offen. Sein Himmelbett nahm den größten Teil des Raumes ein. Er fand offensichtlich großen Gefallen an Rot; purpurrote Seidenvorhänge hingen am Baldachin, und scharlachrote Kissen lagen aufgehäuft auf weißen Teppichen. Ich umrundete das Bett, um zu einer Kommode zu gelangen, und zog die erste Schublade auf. Wäsche. In der nächsten fand ich meine Jacke und musterte sie bestürzt. Sie war mit dunklem eingetrocknetem Blut verkrustet, und jemand hatte die Ärmel abgerissen, vermutlich der Doktor, um die Kugel aus meinem Arm zu schneiden. Ich suchte hektisch nach den anderen Sachen, fand jedoch weder Kniehosen noch Hemd. In Turvilles Hosen würde ich zwei- oder dreimal passen.

In der untersten Schublade wurde ich schließlich fündig. Die Hosen und der Leibrock waren in einem nüchternen Dunkelblau gehalten, jedoch aus einem weichen Samtstoff gefertigt, den sich nicht einmal Luke hätte leisten können. Und von solch einem Leinenhemd mit feiner Spitze an den Ärmeln hatte ich bislang nur geträumt. Ich probierte das Hemd an. Es passte perfekt. Ebenso wie der Leibrock und die Kniehosen. Neben dem Ankleidetisch stand ein neues Paar Stiefel. Als ich in das weiche Leder schlüpfte, lief mir ein wohliger Schauder über den Rücken. Nie zuvor hatten meine großen, plumpen Füße solch ein elegantes, bequemes Zuhause gehabt.

Ich starrte in das dunkle, unebene Venezianische Glas und schreckte zurück. Der verdrießliche Puritaner war verschwunden. Mein feuerrotes Haar war wieder da. War ich so lange krank gewesen, oder war die Farbe herausgewaschen worden? Ich wusste es nicht. Mein Bart war gewachsen. Die Kleidung mochte für mich geschneidert worden sein, doch ich erinnerte mich an keinen Schneider. Unvermittelt ließ ich mich aufs Bett sinken. Ein weiterer, dieses Mal unangenehmer Schauder erfasste mich, als ich mich entsann, wie ich mich im Delirium hin und her geworfen hatte, in der Meinung, dass man bei mir für den Galgen Maß nähme. Man hatte tatsächlich bei mir Maß genommen. Dies war nicht die Kleidung eines Lehrjungen oder eines ehrbaren Handwerkers wie Mr Black. Es war die Kleidung eines Edelmanns.

Selbst meine Hände hatten sich verändert. Die Tinte war von der Handfläche und den Fingerspitzen verschwunden. Vielleicht war sie fortgeschrubbt worden. Nur an der Nagelhaut und dem fleischigen Teil des Handtellers waren ein paar Reste übrig geblieben. Das waren nicht meine Hände, genauso wenig, wie das Spiegelbild Tom Neave zeigte. Ich empfand ein schmerzliches Gefühl des Verlusts, als ich meine Hände anstarrte. Da ich bislang nur von der Pechgrube in Poplar zum Tintenfass in Farringdon befördert worden war, hatte ich diese seltsam rosigen Hände nie zuvor gesehen.

Als die Uhr in der Halle die halbe Stunde schlug, fuhr ich zusammen. Ich schlich die Treppe hinunter und hielt mich dabei am Rand, wo die Wahrscheinlichkeit, dass die Stufen knarren würden, geringer war. Im Studierzimmer hörte ich jemanden ruhelos auf und ab schreiten. Starker Tabakduft lag in der Luft. Noch ein Treppenabsatz, und ich wäre in der Halle. Eine Diele knarrte. Ich erstarrte. In der Stille klang es wie ein Pistolenschuss. Ich meinte, jemanden in der Halle gehört zu haben, und duckte mich hinter das Geländer. Schließlich schlich ich noch ein paar Stufen weiter und spähte in den Korridor. Ich konnte niemanden sehen.

»Ich hätte zulassen soll, dass sie ihn erschießen!«

Eatons Stimme ertönte so plötzlich, dass ich eine Stufe herunterfiel und mich an das Treppengeländer klammerte.

»Und alles verlieren?«, erwiderte Turville scharf. »Geduld, Mr Eaton, Geduld. Wartet, bis der Tag vorüber ist …«

Warten, bis der Tag vorüber war? Seine Stimme wurde zu einem besänftigenden Murmeln, und ich verstand nichts mehr, als ich weiter nach unten schlich. Es war nichts zu hören außer dem Ticken der Uhr in der Halle und dem entfernten Töpfeklappern in der Küche. Ich ging an der Uhr vorbei und wandte mich zum Gang. An der Wand, eine Pfeife in der Hand, stand der große Mann, langgliedrig wie ein Windhund, der mir an jenem Abend, als ich angeschossen worden war, durch die Menge gefolgt war. In seinem Gürtel hing eine Pistole. Er paffte an seiner Pfeife und lächelte mich an. Ich rannte zur Vordertür. Sie war abgeschlossen. Der Mann kam hinter mir her und packte mich. Ich trat um mich und kämpfte, aber geschwächt vom langen Liegen konnte ich nicht mehr ausrichten als seine Pfeife zu zerbrechen. Noch immer ein Lächeln im Gesicht hob er mich hoch, als sei ich nicht mehr als ein Baby, trug mich die Treppe hoch und setzte mich vor Turvilles Studierzimmer ab, ehe er an die Tür klopfte.

14. Kapitel

Eaton brauste auf. Er hatte nichts von den Kleidern gewusst und glaubte, Turville und ich hätten meine Flucht gemeinsam geplant. Erst als ich ihm versicherte, dass ich Jane den Schlüssel gestohlen und die Kleidung allein aufgestöbert hätte, und Turville in seiner schmierigen Art sagte, die Kleider seien nur für den »Eventualfall« gedacht und ich sollte eigentlich nichts von ihnen erfahren, gab Eaton schließlich Ruhe und verfiel in finsteres Schweigen.

An der Wand hinter Turvilles Schreibtisch hing eine Zeichnung, und nach dem Bild, das ich draußen gesehen hatte, erkannte ich, dass es sich um eine Karte der Ländereien von Highpoint handelte, auf der das Haus Wälder, Rieselwiesen, Dörfer und Kirchen beherrschte. Turville strich um mich herum, als sei ich ein reinrassiges Pferd, das auf dem Viehmarkt zum Verkauf stand. Alles andere als wütend über meine Hinterlist, wirkte er so erfreut, dass ich mich zunehmend unbehaglich fühlte. Was mir bei Mr Black eine Tracht Prügel eingebracht hätte, schien hier auf größte Zustimmung zu stoßen. Selbst Eaton konnte nicht aufhören, mich anzustarren. Am bemerkenswertesten von allem aber war, dass er – der Mann mit der Narbe, die Quelle all meiner Albträume – Angst hatte. Möglicherweise war das ein zu scharfes Wort. Aber er war auf jeden Fall aufgewühlt, knackte mit seinen rauen Knöcheln, blickte hinaus in einen riesigen Garten, ehe er den Blick erneut auf mich richtete.

»Diese Kleider sind einfach unglaublich!« Turville rieb sich die plumpen Hände. »Sie zeigen es deutlich, Mr Eaton.«

»Er sieht ihm ziemlich ähnlich!«, murmelte Eaton.

»Ähnlich? Er sieht haargenau so aus!«

Sie blickten auf ein Bild in der Mitte der Wand, von dem ich wusste, dass es ein Van Dyck war. Zuerst erkannte ich Lord Stonehouse nicht. Es lag nur zum Teil daran, dass er wesentlich jünger war. Vor allem lag es daran, dass er so glücklich aussah. Dieses Bild war entstanden, lange bevor sein Haar ergraut und die Falten auf seiner Stirn sich in die tiefen Runzeln verwandelt hatten, die ich bei der Parade gesehen hatte. Es war ein Familienbild mit Highpoint House im Hintergrund. Neben Lord Stonehouse stand eine sittsam wirkende Frau, deren Züge beinahe reizlos wirkten, im Glück jedoch fast schön zu nennen waren. Was leicht zu idealistisch hätte wirken können, wurde durch die Rastlosigkeit des ältesten Jungen authentisch, der versuchte, einem Cockerspaniel einen Stock aus dem Maul zu reißen.

»Er hat die Stonehouse-Nase«, sagte Turville. »Eine Adlernase.«

Adlernase? Plötzlich sollte mir meine Nase, die ich stets gehasst hatte, die düstere Arroganz eines Adlers verleihen? Oder eines Falken. Hatte sie für das Familiensymbol Pate gestanden? Ich sah es in den Gesichtern auf dem Gemälde, oder zumindest meinte ich, es zu erkennen.

Turville legte mir eine Hand auf die Schulter. »Wenn er weiterhin im Dunkeln tappt, wie soll er dann die Gefahren erkennen?«

»Wollt Ihr damit andeuten, ich sollte es ihm sagen?«, fragte Eaton.

»Eine redigierte Version, Mr Eaton. Ich kann Euch nichts befehlen, sondern nur Ratschläge erteilen. Ihr seid für ihn verantwortlich.«