»Und nun jodeln Sie!« rief Richard. »Wenn Sie sich immer noch genieren, so drehen Sie mir den Rücken zu. Aber bitte, laut!«
Er konnte zufrieden sein. Ich jodelte wütend und frohlockend in die rosige Abendweite hinein, in allen Tonarten und Brechungen. Als ich aufhörte, wollte er etwas sagen, hielt aber sogleich wieder inne und deutete horchend gegen die Berge. Von einer fernen Höhe her kam Antwort, leise, langgezogen und schwellend, der Gruß eines Hirten oder Wanderers, und wir hörten still und freudig zu. Während dieses gemeinsamen Stehens und Lauschens überrann mich mit köstlichem Schauer die Empfindung, zum erstenmal neben einem Freunde zu stehen und so zu zweien in schöne, rosig verwölkte Lebensweiten zu blicken. Der abendliche See begann sein weiches Farbenspiel, und kurz vor Sonnenuntergang sah ich aus zerfließendem Gedünste ein paar trotzige, frech gezackte Alpengipfel hervortreten.
»Dort ist meine Heimat«, sagte ich. »Die mittlere Schroffe ist die rote Fluh, rechts das Geißhorn, links und weiter entfernt der runde Sennalpstock. Ich war zehn Jahr und drei Wochen alt, als ich zum erstenmal auf dieser breiten Kuppe stand.«
Ich strengte die Augen an, um etwa noch einen der südlicheren Gipfel zu erspähen. Nach einer Weile sagte Richard etwas, das ich nicht verstand.
»Was sagten Sie?« fragte ich.
»Ich sage, daß ich nun weiß, welche Kunst Sie treiben.« »Welche denn?« »Sie sind Dichter.«
Da wurde ich rot und ärgerlich und war zugleich erstaunt, wie er das erraten habe.
»Nein«, rief ich, »ein Dichter bin ich nicht. Ich habe zwar auf der Schule Verse gemacht, aber nun schon lang keine mehr.«
»Darf ich die einmal sehen?«
»Sie sind verbrannt. Aber Sie dürften sie doch nicht sehen, auch wenn ich sie noch hätte.«
»Es waren gewiß sehr moderne Sachen, mit viel Nietzsche drin?«
»Was ist das?«
»Nietzsche? Ja, großer Gott, kennen Sie den nicht?« »Nein. Woher soll ich ihn kennen?«
Nun war er entzückt, daß idi Nietzsche nicht kannte. Ich aber wurde ärgerlich und fragte, über wieviel Gletscher er schon gegangen sei. Als er sagte, über keinen, tat ich darüber ebenso spöttisch erstaunt wie er vorher über mich. Da legte er mir die Hand auf den Arm und sagte ganz ernst: »Sie sind empfindlich. Aber Sie wissen ja selber gar nicht, was für ein beneidenswert unverdorbener Mensch Sie sind und wie wenig solche es gibt. Sehen Sie, in einem Jahr oder zwei werden Sie Nietzsche und all den Kram ja auch kennen, viel besser als ich, da Sie gründlicher und gescheiter sind. Aber gerade so, wie Sie jetzt sind, hab ich Sie gern. Sie kennen Nietzsche nicht und Wagner nicht, aber Sie sind viel auf Schneebergen gewesen und haben so ein tüchtiges Oberländergesicht. Und ganz gewiß sind Sie auch ein Dichter. Ich kann das am Blick und an der Stirn sehen.«
Auch das, daß er so freimütig und ungeniert mich betrachtete und seine Meinung herausplauderte, erstaunte mich und kam mir ungewöhnlich vor.
Noch viel erstaunter und glücklicher war ich aber, als er acht Tage später in einem vielbesuchten Biergarten Brüderschaft mit mir schloß, vor allen Leuten aufsprang, mich küßte und umfaßte und mit mir wie verrückt um den Tisch herum tanzte.
»Was werden die Leute denken!« warnte ich ihn schüchtern.
»Sie werden denken: die zwei sind außerordentlich glücklich oder ganz außerordentlich besoffen; die meisten aber werden gar nichts denken.«
Überhaupt schien Richard mir oft, obwohl er älter, klüger, besser erzogen und in allem beschlagener und raffinierter war als ich, doch im Vergleich mit mir das reine Kind zu sein. Auf der Straße machte er halbwüchsigen Schulmädchen feierlich-spöttisch den Hof, die ernsthaftesten Klavierstücke unterbrach er unerwartet mit völlig kindischen Witzen, und als wir einmal spaßeshalber in eine Kirche gegangen waren, sagte er plötzlich mitten während der Predigt nachdenklich und wichtig zu mir: »Du, findest du nicht, der Pfarrer sieht aus wie ein Kaninchengreis?« Der Vergleich traf zu, ich fand aber, er hätte mir das auch nachher mitteilen können, und sagte ihm das.
»Wenn es doch richtig war!« schmollte er. »Bis nachher hätte ich es wahrscheinlich wieder vergessen.«
Daß seine Witze keineswegs immer geistreich waren, häufig sogar nur auf das Zitieren eines Buschverses hinausliefen, störte weder mich noch andere, denn was wir an ihm liebten und bewunderten, war nicht Witz und Geist, sondern die unbezwingliche Heiterkeit seines lichten, kindlichen Wesens, welche jeden Augenblick hervorbrach und ihn mit einer leichten, fröhlichen Atmosphäre umgab. Sie konnte sich in einer Gebärde, in einem leisen Lachen, in einem fidelen Blicke äußern, aber lange sich verbergen konnte sie nicht. Ich bin überzeugt, daß er auch im Schlaf zuweilen lachen oder eine Geste der Heiterkeit machen mußte.
Richard brachte mich häufig mit andern jungen Leuten zusammen, Studenten, Musikanten, Malern, Literaten, allerlei Ausländern, denn was an interessanten, kunstliebenden und aparten Personen in der Stadt herumlief, geriet in seinen Umgang. Es waren manche ernste und heftig ringende Geister dabei, Philosophen, Ästhetiker und Sozialisten, und von vielen konnte ich ein gutes Stück lernen. Kenntnisse aus den verschiedensten Gebieten flogen mir stückweise an, ich ergänzte und las viel nebenher, und so gewann ich allmählich eine gewisse Vorstellung von dem, was die regsamsten Köpfe der Zeit plagte und bannte, und bekam einen wohltätig anspornenden Einblick in die geistige Internationale. Ihre Wünsche, Ahnungen, Arbeiten und Ideale waren mir anziehend und verständlich, ohne daß ein starker eigener Trieb mich genötigt hätte, für oder wider mitzustreiten. Bei den meisten fand ich alle Energie des Gedankens und der Leidenschaft auf Zustände und Einrichtungen der Gesellschaft, des Staates, der Wissenschaften, der Künste, der Lehrmethoden gerichtet, die wenigsten aber schienen mir das Bedürfnis zu kennen, ohne äußeren Zweck an sich selber zu bauen und ihr persönliches Verhältnis zu Zeit und Ewigkeit zu klären. Auch in mir selber lag dieser Trieb noch zumeist im Halbschlummer.
Freundschaften schloß ich keine mehr, da ich Richard ausschließlich und mit Eifersucht liebte. Auch den Frauen, mit denen er viel und vertraut umging, suchte ich ihn zu entziehen. Die kleinsten mit ihm getroffenen Verabredungen hielt ich peinlich genau und war empfindlich, wenn er mich warten ließ. Einmal bat er mich, ihn zu einer bestimmten Stunde zum Rudern abzuholen. Ich kam, fand ihn aber nicht zu Hause und wartete drei Stunden vergebens auf sein Kommen. Tags darauf warf ich ihm seine Nachlässigkeit heftig vor.
»Warum bist du denn nicht einfach allein rudern gegangen?« lachte er verwundert. »Ich hatte die Sache ganz vergessen; das ist doch schließlich kein Unglück.«
»Ich bin gewohnt, mein Wort pünktlich zu halten«, antwortete ich heftig. »Aber freilich bin ich auch daran gewöhnt, daß du dir wenig daraus machst, mich irgendwo auf dich warten zu wissen. Wenn man so viele Freunde hat wie du!«
Er sah mich mit maßlosem Erstaunen an.
»Ja, so ernst nimmst du jede Bagatelle?«
»Meine Freundschaft ist mir keine Bagatelle.«
zitierte Richard feierlich, faßte mich um den Kopf, rieb nach orientalischem Liebesbrauch seine Nasenspitze an der meinen und liebkoste mich, bis ich ärgerlich lachend mich ihm entzog; die Freundschaft aber war wieder heil.
In meiner Mansarde lagen in entlehnten, oft kostbaren Bänden die modernen Philosophen, Dichter und Kritiker, literarische Revuen aus Deutschland und Frankreich, neue Theaterstücke, Pariser Feuilletons und Wiener Modeästheten. Ernster und liebevoller als mit diesen rasch gelesenen Sachen beschäftigte ich mich mit meinen altitalienischen Novellisten und mit historischen Studien. Mein Wunsch war, baldmöglichst die Philologie beiseite zu legen und einzig Geschichte zu studieren.