Выбрать главу

Neben Werken über Gesamtgeschichte und historische Methode las ich namentlich Quellen und Monographien über die Zeit des Spätmittelalters in Italien und Frankreich. Dabei lernte ich zum erstenmal meinen Liebling unter den Menschen, Franz von Assisi, den seligsten und göttlichsten aller Heiligen, genauer kennen. Und so ward mein Traum, in dem ich die Fülle des Lebens und Geistes vor mir eröffnet gesehen hatte, täglich wahr und erwärmte mir das Herz mit Ehrgeiz, Freude und Jugendeitelkeit. Im Hörsaal nahm mich die ernste, etwas herbe und gelegentlich etwas langweilige Wissenschaft in Anspruch. Zu Hause kehrte ich bei den heimelig frommen oder schauerlichen Geschichten des Mittelalters oder bei den behaglichen alten Novellisten ein, deren schöne und wohlige Welt mich wie ein schattiger, dämmernder Märchenwinkel umschloß, oder ich fühlte die wilde Woge moderner Ideale und Leidenschaften über mich weg rollen. Dazwischen hörte ich Musik, lachte mit Richard, nahm an den Zusammenkünften seiner Freunde teil, verkehrte mit Franzosen, Deutschen, Russen, hörte sonderbare moderne Bücher vorlesen, trat da und dort in die Ateliers der Maler oder wohnte Abendgesellschaften bei, in denen eine Menge aufgeregter und unklarer junger Geister erschien und mich wie ein phantastischer Karneval umgab.

Eines Sonntags besuchte Richard mit mir eine kleine Ausstellung neuer Gemälde. Mein Freund blieb vor einem Bilde stehen, das eine Alp mit ein paar Ziegen vorstellte. Es war fleißig und nett gemalt, aber ein wenig altmodisch und eigentlich ohne rechten künstlerischen Kern. Man sieht in jedem beliebigen Salon genug solche hübsche, wenig bedeutende Bildchen. Immerhin erfreute es mich als eine ziemlich treue Darstellung der heimatlichen Almen. Ich fragte Richard, was ihn denn an dem Bildchen anziehe.

»Das hier«, sagte er und deutete auf den Malernamen in der Ecke. Ich konnte die rotbraunen Buchstaben nicht entziffern. »Das Bild«, sagte Richard, »ist keine große Leistung. Es gibt schönere. Aber es gibt keine schönere Malerin als die, die das gemacht hat. Sie heißt Erminia Aglietti, und wenn du willst, können wir morgen zu ihr gehen und ihr sagen, sie sei eine große Malerin.«

»Kennst du sie?«

»Jawohl. Wenn ihre Bilder so schön wären wie sie selber, dann wäre sie schon lange reich und würde keine mehr malen. Sie tut es nämlich ohne Lust und nur, weil sie zufällig nichts anderes gelernt hat, wovon sie leben könnte.«

Richard vergaß die Sache wieder und kam erst ein paar Wochen später darauf zurück.

»Ich bin gestern der Aglietti begegnet. Wir wollten sie ja eigentlich neulich schon besuchen. Also komm! Du hast doch einen reinen Kragen? Sie sieht nämlich darauf.«

Der Kragen war rein, und wir gingen zusammen zur Aglietti, ich mit einigem inneren Widerstreben, denn der freie, etwas burschikose Verkehr Richards und seiner Kameraden mit Malweibern und Studentinnen hatte mir nie gefallen. Die Männer waren dabei ziemlich rücksichtslos, bald grob, bald ironisch; die Mädchen aber waren praktisch, klug und gerissen, und nirgends war etwas von dem verklärenden Duft zu merken, in welchem ich die Frauen gerne sah und verehrte.

Etwas befangen trat ich in das Atelier. Mit der Luft der Malerwerkstätten war ich zwar wohlvertraut, doch betrat ich jetzt zum erstenmal ein Frauenatelier. Es sah recht nüchtern und sehr ordentlich aus. Drei oder vier fertige Bilder hingen in Rahmen, eines stand noch kaum ganz untermalt auf der Staffelei. Den Rest der Wände bedeckten sehr saubere, appetitlich aussehende Bleistiftskizzen und ein halbleerer Bücherschrank. Die Malerin nahm unsre Begrüßung kühl entgegen. Sie legte den Pinsel weg und lehnte sich im Malschurz gegen den Schrank, und es sah aus, als verlöre sie nicht gerne viel Zeit an uns.

Richard machte ihr ungeheuerliche Komplimente über das ausgestellte Bild. Sie lachte ihn aus und verbat es sich.

»Aber Fräulein, ich konnte ja im Sinn haben, das Bild zu kaufen! übrigens sind die Kühe darauf von einer Wahrheit –« »Es sind ja Ziegen«, sagte sie ruhig.

»Ziegen? Natürlich Ziegen! Von einem Studium, wollte ich sagen, das mich verblüfft hat. Es sind Ziegen, wie sie leben, so recht ziegenmäßig. Fragen Sie meinen Freund Camenzind, der selbst ein Sohn der Berge ist; er wird mir recht geben.«

Hier fühlte ich, während ich verlegen und belustigt dem Geschwätz zuhörte, mich vom Blick der Malerin überflogen und gemustert. Sie sah mich lange und unbefangen an. »Sie sind Oberländer?« »Ja, Fräulein.«

»Man sieht es. Nun, und was halten Sie von meinen Ziegen?« »Oh, sie sind gewiß sehr gut. Wenigstens hab ich sie nicht für Kühe gehalten wie Richard.« »Sehr gütig. Sie sind Musiker?« »Nein, Student.«

Weiter sprach sie kein Wort mit mir, und ich fand nun Ruhe, sie zu betrachten. Die Gestalt war durch den langen Schurz verdeckt und entstellt, und das Gesicht erschien mir nicht schön. Der Schnitt war scharf und knapp, die Augen ein wenig streng, das Haar reich, schwarz und weich; was mich störte und fast abstieß, war die Farbe des Gesichts. Sie erinnerte mich schlechterdings an Gorgonzola, und ich wäre nicht erstaunt gewesen, grüne Ritzen darin zu finden. Ich hatte noch nie diese welsche Blässe gesehen, und jetzt, im ungünstigen morgendlichen Atelierlicht, sah sie erschreckend steinern aus – nicht wie Marmor, sondern wie ein verwitternder, sehr gebleichter Stein. Ich war auch nicht gewohnt, ein Frauengesicht auf seine Formen zu prüfen, sondern pflegte in solchen noch in etwas knabenhafter Weise mehr nach Schmelz, nach Rosigem, nach Liebreiz zu suchen.

Auch Richard war vom heutigen Besuch verstimmt. Desto mehr war ich erstaunt oder eigentlich erschrocken, als er mir nach einiger Zeit mitteilte, die Aglietti wäre froh, mich zeichnen zu dürfen. Es handle sich nur um ein paar Skizzen, das Gesicht brauche sie nicht, aber meine breite Figur habe etwas Typisches.

Ehe weiter hiervon die Rede war, kam ein anderes kleines Ereignis, das mein ganzes Leben geändert und für Jahre meine Zukunft bestimmt hat. Eines Morgens, da ich erwachte, war ich Schriftsteller geworden.

Auf das Drängen Richards hatte ich, rein als Stilübungen, gelegentlich Typen aus unsrem Kreis, kleine Erlebnisse, Gespräche und anderes skizzenhaft und möglichst treu dargestellt, auch einige Essays über Literarisches und Historisches geschrieben.

Eines Morgens nun, ich lag noch im Bette, trat Richard bei mir ein und legte fünfunddreißig Franken auf meine Bettdecke. »Das gehört dir«, sagte er im Geschäftston. Endlich, als ich im Fragen alle Vermutungen erschöpft hatte, zog er ein Zeitungsblatt aus der Tasche und zeigt mir darin eine meiner kleinen Novellen abgedruckt. Er hatte mehrere meiner Manuskripte abgeschrieben, einem ihm befreundeten Redakteur gebracht und in aller Stille für mich verkauft. Das erste, was gedruckt war, samt dem Honorar dafür hielt ich nun in Händen.

Mir war nie so sonderbar zumut. Eigentlich ärgerte ich mich über Richards Vorsehungspielen, aber der süße erste Schreiberstolz und das schöne Geld und der Gedanke an einen etwaigen kleinen Literatenruhm war doch stärker und überwog schließlich.

In einem Café brachte mich mein Freund mit dem Redakteur zusammen. Er bat, die ihm von Richard gezeigten anderen Arbeiten behalten zu dürfen, und lud mich ein, ihm je und je neue zu schicken. Es sei ein eigener Ton in meinen Sachen, besonders in den historischen, deren er gerne mehr bekomme und die er mir ordentlich bezahlen wolle. Nun sah ich erst die Wichtigkeit der Sache. Ich würde nicht nur täglich ordentlich essen und meine kleinen Schulden bezahlen, sondern auch das Zwangsstudium wegwerfen und vielleicht in Bälde, auf meinem Lieblingsfelde arbeitend, ganz vom eigenen Erwerbe leben können. Einstweilen bekam ich von jenem Redakteur einen Stoß neuer Bücher zum Rezensieren ins Haus geschickt. Ich fraß mich durch und hatte wochenlang damit zu tun; da aber die Honorare erst zu Ende des Quartals fällig waren und ich in Aussicht auf dieselben besser als sonst gelebt hatte, sah ich mich eines Tages der letzten Rappen ledig und konnte wieder einmal eine Hungerkur antreten. Ein paar Tage hielt ich bei Brot und Kaffee in meiner Bude aus, dann trieb mich der Hunger in eine Speisehalle. Ich nahm drei von den Rezensionsbänden mit, um sie als Pfand für die Zeche dort zu lassen. Beim Antiquar hatte ich sie schon vergeblich anzubringen versucht. Das Essen war vorzüglich, beim schwarzen Kaffee aber ward mir etwas ängstlich ums Herz. Zaghaft gestand ich der Kellnerin, ich hätte kein Geld, wolle aber die Bücher als Pfand dalassen. Sie nahm eines davon, einen Band Gedichte, in die Hand, blätterte neugierig darin herum und fragte, ob sie das lesen dürfe. Sie lese so gern, könne aber nie zu Büchern kommen. Ich fühlte, daß ich gerettet sei, und schlug ihr vor, die drei Bändchen an Zahlungsstatt für das Essen zu behalten. Sie ging darauf ein und hat mir nach und nach für siebzehn Franken Bücher auf diese Weise abgenommen. Für kleinere Gedichtbände beanspruchte ich etwa einen Käse mit Brot, für Romane dasselbe mit Wein, einzelne Novellen galten nur eine Tasse Kaffee mit Brot. Soweit ich mich erinnere, waren es meist geringe Sachen in krampfhaft neumodischem Stil, und das gutmütige Mädchen mag von der modernen deutschen Literatur einen sonderbaren Eindruck erhalten haben. Ich erinnere mich mit Vergnügen an jene Vormittage, da ich im Schweiß meines Angesichts schnell noch einen Band im Galopp zu Ende las und ein paar Zeilen darüber schrieb, um ihn zur Mittagszeit fertig zu haben und etwas Eßbares dafür erhalten zu können. Vor Richard suchte ich meine Geldnöte sorgfältig zu verbergen, da ich mich unnötigerweise ihrer schämte und seine Hilfe nur ungern und stets nur für ganz kurze Fristen annehmen mochte.